Am Anfang stand das Reh

ROTE FLORA Das Hamburger Radio „Freies Sender Kombinat“ wurde Anfang der 2000er Jahre von der Polizei ausspioniert. Zum Einsatz der verdeckten Ermittlerin Ines P. nimmt die Redaktion jetzt Stellung

Die Beamtin Iris P. schlug den Namen „Rehvolte Radio“ für die Radiosendung vor

AUS HAMBURG KAI VON APPEN

Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zum Einsatz der verdeckten Ermittlerin Iris P. in der linken Szene Hamburgs wird immer wahrscheinlicher. Anders lassen sich kaum die Widersprüche in dem sechs Jahre dauernden Komplex aufklären.

Die damals 27-jährige Staatsschützerin des Hamburger Landeskriminalamts (LKA) war im besetzten autonomen Zentrum Rote Flora und beim selbst verwalteten Radio Freies Sender Kombinat (FSK) eingesetzt. Sie war dort einerseits für das LKA-Hamburg als auch parallel für das Bundeskriminalamt und das LKA-Schleswig-Holstein tätig.

In einer schriftlichen Aufarbeitung widerspricht die Redaktion des Magazins Re(h)v(v)o(l)-lte radio beim FSK nun der Darstellung der Innenbehörde. Die Innenbehörde hatte behauptet, dass die Beamtin beim FSK wegen der Presse- und Rundfunkfreiheit mit „ausdrücklicher Zurückhaltung“ agiert habe.

Nach heutigem Stand hatte Iris P. nie den richterlich abgesegneten Auftrag, den FSK zu infiltrieren. Sie habe wohl nur mitgemacht, um ihre Legende als „Iris Schneider“ zu untermauern, so die Innenbehörde. Iris P. war „nicht nur als Moderatorin, sondern auch als Produzentin, Interviewerin und Interviewte im FSK tätig“, kontern die Macherinnen vom FSK. Sie habe sogar den Namen der Sendung mitgeprägt. So lautete der Arbeitstitel zunächst „Steht ein Reh im Wald“. Iris P. sei das zu „naturnah und albern“ gewesen, so das Team. „Ihrer Meinung nach sollte der Name unserer Sendung ‚politischer‘ sein und ‚nach vorne gehen‘.“

Sie habe „Rehvolte Radio“ als Namen vorgeschlagen und während einer Sendung offen am Mikrofon vertreten, sodass das Wortungetüm „re(h)v(v)o(l)lte radio“ entstanden sei.

Im Februar 2005 habe Iris P. über eine Antifa-Demo gegen einen Naziaufmarsch in Kiel berichtet: „Mein Eindruck war, dass die Polizei gar keine Übersicht mehr hatte.“

Mit viel Zeit und technischem Sachverstand habe sich Iris P. „unentbehrlich“ zu machen versucht. Iris P. habe das Vertrauen, das den Radiomacherinnen entgegengebracht worden sei, ausgenutzt, um sich so den Zugang zu weiteren Gruppen und Einzelpersonen, insbesondere aus dem queer-feministischen Spektrum zu erschließen.

Inzwischen geht die „re(h)v(v)o(l)lte radio“-Redaktion davon aus, dass Iris P. einen Auftrag hatte und nicht aus eigener Motivation beim Sender aktiv wurde. „Eine Frau, die ihre Identitäten nicht bewusst unter Kontrolle gehabt hätte, wäre untauglich gewesen“, argumentiert die Redaktion.

Das private Miteinander spiele in linken Zusammenhängen eine große Rolle, daher könne bei ihr auch von „Zurückhaltung“ keine Rede gewesen sein. „Iris führte Freundschaften, Liebesbeziehungen und Affären in der queeren Szene. Sie hat bei vielen Gelegenheiten unsere Wohnungen betreten, zum Teil mehrmals die Woche“, erinnern sich ihre Kolleginnen. „Sie hat mit uns Tee getrunken, Musik gehört, gepuzzelt und geplaudert.“ All das, was eine verdeckte Ermittlerin nur auf genaue richterlicher Anordnung vielleicht dürfte, aber was eine als „Beamtin für Lagebeurteilung“ eingesetzte Polizistin des LKA-Hamburg auf jeden Fall nicht gedurft habe.

Die Hamburger Innenbehörde behauptet, alle Akten und Datensätze seien wegen Datenschutz gelöscht worden. Innensenator Michael Neumann (SPD) hat an die Betroffenen aus der linken Szene appelliert, sich als Zeugen zur Verfügung zu stellen, da Iris P. schweige. Doch die Betroffenen misstrauen auch der heutigen Polizeiführung. Vor einem Untersuchungsausschuss wären sie nach taz-Informationen aber wohl aussagebereit.