Ungeziefer mit Maske

THEATER Die Theaterwerkstatt der Hochschule Bremen verschränkt in ihrer neuen Produktion Kafka-Personal mit Marvel-Comics, um die Identitätsfrage zu stellen

Das Ringen mit seiner Identität verbindet Gregor Samsa aus Kafkas „Verwandlung“ mit dem Helden aus den Marvel-Comics

VON JENS LALOIRE

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Dies ist der berühmte erste Satz aus Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“. Ein Mann, der als Alleinversorger die ganze Verantwortung für seine Familie trägt, mutiert über Nacht zu einem Käfer und entzieht sich somit seinen Verpflichtungen.

Der Außenseiter Peter Parker hingegen wird durch seine Verwandlung zu „Spiderman“ zum gefeierten Superhelden, der seine wahre Identität allerdings hinter einer Maske verbergen muss. Das Ringen mit seiner Identität verbindet Gregor Samsa aus Kafkas „Verwandlung“ mit dem Helden aus den Marvel-Comics. Grund genug für Regisseur Roland Huhs, mit dem Ensemble der Theaterwerkstatt der Hochschule Bremen die beiden Werke zu „Kafkas Spiderman – Die Verwandlung“ zu verknüpfen. „Von der Grundstruktur“, sagt Huhs, „sind die beiden ähnlich gestrickt. Nur dass der eine auf sein gekränktes Selbstwertgefühl mit Rückzug reagiert, während der andere seine Reaktion nach außen trägt.“

Von den Charakteren und den Handlungssträngen der Ursprungsstorys bleibt allerdings so gut wie nichts übrig. In erster Linie arbeitet die Inszenierung mit Motiven aus beiden Werken und konzentriert sich auf Aspekte der Identität und die Frage, wie man die Rolle, die einem in der Gesellschaft zugewiesen wird, ausfüllt beziehungsweise ihr entkommt. Weshalb es auch keine Einzeldarsteller gibt, die über die gesamten sechzig Minuten die Rolle Parkers oder Samsas ausfüllen; stattdessen schlüpfen alle 24 Akteure mal in die eine oder die andere Figur, aber auch in andere Rollen.

Überhaupt ist viel Bewegung in der Inszenierung, die vor allem mit den Choreografien überzeugt, die die Theaterpädagogin und Choreografin Adriana Könemann mit dem Ensemble entwickelt hat. Sprechszenen wechseln sich mit Tanzeinlagen ab, in denen oft ein Großteil der ganz in Schwarz gekleideten Darsteller zu eingespielter Pop- oder Elektromusik gemeinsam auf der Bühne agiert. Mehrfach wird dabei geschickt das Bühnenbild eingebunden, das aus Dutzenden Stoffstreifen besteht, die im Hintergrund von der Decke bis zum Boden herabhängen und zum Schwungholen, Fesseln oder Klettern genutzt werden.

Weniger gut funktionierte bei der Premiere die Kameratechnik, die kurzfristig ausfiel und eigentlich das gleichzeitige Spiel in den beiden Sälen der Schwankhalle ermöglichen und den voyeuristischen Aspekt betonen soll, der dem Publikum beim Beobachten der Metamorphosen zukommt. Ohne die Videoeinspielungen wirkten manche Szenen ein wenig verloren. Ob das mit Video besser funktioniert, lässt sich schwer beurteilen – so wird jedoch recht deutlich, dass der Abend weniger eine Inszenierung aus einem Guss ist, sondern vielmehr eine Szenencollage, die zwar mit Bildern, Figuren und Zitaten der Vorlagen arbeitet, diese aber in erster Linie als Folie für die eigene Auseinandersetzung mit Identitätsentwürfen nutzt.

Dieses Collagenartige ist allerdings auf die Arbeitsweise der Theaterwerkstatt zurückzuführen. Seit ihrer Gründung im Jahr 1999 erarbeiten die beiden Regisseure Roland Huhs und Holger Möller mit einem sich jedes Jahr frisch zusammenfindenden Studenten-Ensemble eine neue Produktion (seit 2006 sind es gar jeweils zwei in zwei unterschiedlichen Gruppen, die parallel arbeiten). Viele der Studenten haben, wenn sie zum Semesterbeginn zu den ersten Treffen kommen, noch keinerlei Schauspielerfahrung; dementsprechend steht nicht allein der künstlerische Anspruch, sondern auch die Entwicklung der Gruppe im Fokus. Oft kreieren die Studenten in Kleingruppen Szenen, die erst in den letzten Wochen zu einer Gesamtinszenierung zusammengeführt werden. Umso erstaunlicher, dass die Theaterwerkstatt bereits über einen so langen Zeitraum regelmäßig hochwertige Produktionen abliefert.

Auch wenn „Kafkas Spiderman“ nicht zu den stärksten Inszenierungen der vergangenen Jahre gehört, lässt sich hier ein Ensemble beobachten, das auf der Bühne im Zusammenspiel gut harmoniert. „Es ist toll, zu sehen, wo die Gruppe im Oktober stand und wo sie jetzt steht“, sagt Huhs mit Blick auf den Prozess, der über die Monate innerhalb der Gruppe stattgefunden hat und sich nun auf der Bühne widerspiegelt. So entsteht in den besten Momenten eine Dynamik, eine Intensität und Emotionalität, die mitreißt, weil für einen Augenblick plötzlich alle Masken abgelegt scheinen – und zwar dort, wo man es am wenigsten erwartet: auf der Bühne.

■ Weitere Aufführungen: Samstag (heute), Sonntag & Montag, 20.00 Uhr, Schwankhalle