Im schönen Kleid des Abenteuers

GELDGIER Ein Bösewicht namens Long John Silver, der einem fast sympathisch wird, und ein Musik-Score, der Fernweh weckt: zweimal „Die Schatzinsel“ – einmal als Hörspiel, einmal als Lesung

Robert Louis Stevensons „Die Schatzinsel“ als bloßen Jugend- und Abenteuerroman zu lesen, hieße, nur eine Seite des Golddukatens zu betrachten. In Wahrheit handelt es sich bei dem 1886 vom viel gereisten Stevenson verfassten Roman um eine „Parabel über Geldgier, eingefasst in das schöne Kleid des Abenteuers“, wie Andreas Nohl in einem Essay schreibt, das seine 2013 erschienene Neuübersetzung flankiert. Der Neufassung zugefügt sind drei weitere Texte zur Entstehung des Romans: einer von Stevenson selbst, einer von seiner Frau Fanny und einer von Stiefsohn Lloyd, für den er „Die Schatzinsel“ ursprünglich nur so zum Zeitvertreib schrieb.

Aus diesen Texten hat Heinz Sommer, Hörfunkdirektor des Hessischen Rundfunks, ein Hörspiel geknüpft, dessen Sogwirkung man sich kaum entziehen kann. Erzählt wird die Geschichte von Jim Hawkins, dessen Sprecher Maximilian von der Groeben überzeugend zwischen jugendlichem Leichtsinn und Abgeklärtheit changiert. Zunächst etwas verwirrend, lässt Sommer auch Stevenson, Fanny und Lloyd zu Wort kommen. Doch damit wird aus dem Abenteuer-Hörspiel die Dokumentation eines Abenteuers, ein bemerkenswerter Kniff. „Tatort“-Kommissar Udo Wachtveitl spricht Long John Silver facettenreich: skrupellos, geldgierig und doch sympathisch, fast hegt man für sein Tun Verständnis. Einzige Schwachstelle ist Thomas Fritsch, der seinen Käpt’n Billy Bones interpretiert, wie vielleicht ein Kind einen Trunkenbold sprechen würde. Aber Billy Bones lebt nicht lang, und die solide Arbeit weiterer Sprecher wie Ulrich Noethen, Matthias Habich oder Sylvester Groth sorgt zusammen mit einem stimmigen Geräusch- und Soundteppich für ein anregendes Hörerlebnis. Im Booklet macht sich Sommer Gedanken zu dieser Neufassung, Autor sowie Ensemble werden kurz vorgestellt und Liedtexte sind abgedruckt. Eine Landkarte der Schatzinsel ist ein hübscher Gimmick, der während des Hörens bei der Orientierung hilft (der Hörverlag, 19,99 Euro, 4 CDs, Laufzeit 239 Minuten).

Will man sich den Roman lieber einfach nur vorlesen lassen, verlangt die etwas ältere, behutsam von Antje Seibel für die Hörversion bearbeitete und leicht gekürzte Fassung von „Die Schatzinsel“ unbedingt um Gehör. Andreas Fröhlich, der auch als Schauspieler und Drehbuchautor arbeitet, trägt den Text vor. Mit Verve spielt er die einzelnen Charaktere, sodass sie lebendig werden. Eigens für die Produktion komponierte Musik trennt die einzelnen Kapitel. Ihr Komponist Jan-Peter Pflug variiert dabei ein immer wiederkehrendes Thema, es weckt Fernweh und ist arrangiert wie ein Score für einen Hollywood-Abenteuerfilm. Ausgiebige biografische Angaben zu Stevensons Lebens- und Krankheitsgeschichte, die eng mit seinem literarischen Werk verbandelt ist, Hinweise auf sein weiteres Werk und eine kleine Entstehungsgeschichte des Romans machen das Booklet zu einem kleinen Nachschlagewerk. Erhellend ist überdies der Hinweis auf die presbyterianisch-puritanische Umgebung, in der Stevenson aufwuchs und die sein Schaffen stark geprägt hat. Damit hat die Box durchaus das Zeug dazu, Kinder zu weiterführenden historische Recherchen anzuregen (Oetinger audio, 10 Euro, 4 CDs, Laufzeit 310 Minuten, ab 8 Jahre). SYLVIA PRAHL