Es fehlen die Straßenköter

FUSSBALL Hertha BSC hat sich nur knapp in der Ersten Liga gehalten. Und damit das Minimalziel erreicht. Also Mund abputzen und weitermachen? So einfach ist die Lage nicht

■ Und doch noch eine Erfolgsmeldung für Hertha BSC, die durchaus Hoffnung für die Zukunft machen kann: Am Samstag bezwang Hertha im mit 4.400 Zuschauern ausverkauften heimischen Stadion am Wurfplatz Energie Cottbus mit 1:0 – und damit sicherte sich der Hertha-Nachwuchs den DFB-Juniorenpokal 2015.

■ Diesen Pokal konnte Hertha erst einmal gewinnen, und das ist einige Jahre her: 2004 besiegte die damalige Mannschaft um Kevin-Prince Boateng und Patrick Ebert den SGV Freiberg mit 5:0. Im Jahr 2010 scheiterte man beim A-Jugend-Pokalfinale an der TSG Hoffenheim, zwei Jahre später ging das Finale gegen den SC Freiburg verloren.

VON TORSTEN LANDSBERG

Der Fußball ist manchmal sehr einfach. Es lohnt nicht, zurückzublicken, denn was war, ist vergangen. Das gilt bei einem Sieg wie bei einer Niederlage, nach einem Titelgewinn wie nach dem Abstieg. Was zählt ist, was kommt. Doch so einfach ist die Realität natürlich nicht, zumal bei einem Verein, der den hübschen Beinamen „alte Dame“ trägt und seit einer Ewigkeit mit dem Etikett einer Diva behaftet ist.

Dabei sieht auf den ersten Blick auch hier alles so einfach aus: Hertha BSC bleibt in der Ersten Bundesliga. Minimalziel erreicht, Mund abputzen, weitermachen. „Wir sind einfach nur glücklich, dass wir die Klasse gehalten haben“, sagte Kapitän Fabian Lustenberger nach dem letzten Saisonspiel. Und der Was-war-ist-vergangen-Logik folgend: „Wie wir das bewerkstelligt haben, interessiert morgen keinen mehr.“ Hertha-Manager Michael Preetz reagierte am vergangenen Dienstag auf der Mitgliederversammlung ungehalten auf Kritik an seiner Arbeit: „Ich werde einen Teufel tun und mich dafür schämen, dass wir unser Saisonziel erreicht haben.“

Der Klassenerhalt ist die Hauptsache – natürlich haben sie damit recht. So, wie jemand recht hat, der nach einem Autounfall mit Blick auf den demolierten Sportwagen sagt, dass ja wenigstens niemand verletzt worden ist. Ein neues Auto braucht er aber trotzdem.

Hertha braucht mindestens eine Reparatur. Den Klassenerhalt hat das Team allein dank des besseren Torverhältnisses geschafft. Oder anders: Hertha hat die Klasse gehalten, weil andere noch schlechter waren. Die Hälfte aller 34 Spiele ging verloren. Ein schlechtes Zeugnis, Versetzung geschafft, mit Ach und Krach. Wer sich aber an die Schulzeit erinnert, weiß: Im neuen Schuljahr muss man sich auf die Hinterbeine stellen, sonst erwischt es einen doch noch.

Es ist nicht überliefert, wie fleißig Pál Dárdai in der Schule war, aber das mit den Hinterbeinen weiß er. Dem Trainer, im Februar nach Jos Luhukays Entlassung vom U15-Nachwuchs zu den Profis befördert, war es schnell gelungen, die Mannschaft defensiv zu stabilisieren. Er kommt gut an in der Mannschaft, bei den Fans sowieso. Früher hat der Ungar das defensive Mittelfeld der Berliner beackert, unbarmherzig gegen sich und seine Gegner. Preetz, der Rekordtorschütze des Vereins als Geschäftsführer, und Dárdai, der Rekordspieler als Trainer – die Fortsetzung der Hertha-Folklore schien im Falle des Klassenerhalts eine Formalie zu sein.

Dárdai wirkt oft sehr lustig, er hat diesen niedlichen Akzent und ein spitzbübisches Grinsen im Gesicht, mit dem er erzählt, er habe früher „immer Gulasch gefressen“. Vor dem letzten Saisonspiel referierte der 39-Jährige, er sei ins Wasser geworfen worden, und „die Krokodile sind immer noch da, ich nehme Messer und alles mit“.

Unterschätzen sollte man den jungen Trainer ob seiner putzigen Diktion nicht. Das musste in den vergangenen Tagen auch Michael Preetz lernen. Dárdai haderte, aus der erwarteten Formsache beim neuen Vertrag drohte eine Hängepartie zu werden. Zwar ist die weitere Zusammenarbeit seit Freitag besiegelt und Dárdai nun Cheftrainer, aber sein Zögern wirkt nach: Es offenbart alle aktuellen Unzulänglichkeiten des aktuellen Hertha-Jahrgangs.

Zweifel an Qualität

Dárdai – und mit ihm der allseits geschätzte Kotrainer Rainer Widmayer – zweifelt an der Qualität der Mannschaft in ihrer aktuellen Zusammenstellung. Sie soll ihm nicht spielstark genug und zu wenig torgefährlich sein. Auch mit ihrem Charakter ist er nicht einverstanden. Der Kicker berichtete, bereits im April seien acht Spieler mit ihrer Urlaubsplanung ans Management herangetreten. Mit Dárdais Auffassung von pflichtbewusster Fokussierung auf den Abstiegskampf hat das wenig zu tun.

Um die personellen Defizite weiß auch Preetz, doch für umfangreiche Veränderungen im Kader sind ihm die Hände weitgehend gebunden. Mit Ausgaben im niedrigen einstelligen Millionenbereich kalkuliert Hertha für diesen Sommer, was im Fußballgeschäft nicht viel mehr als nichts ist. Auf hohe Transfererlöse kann Hertha nicht hoffen, die Spieler waren zu schlecht, um das Interesse anderer Vereine und deren Bereitschaft zu wecken, tief in die Tasche zu greifen. Und selbst für günstige oder ablösefreie Spieler müsste im Kader erst mal Platz geschaffen werden. Eher wird Hertha also noch Geld abdrücken müssen, um den gefloppten Verteidiger John Heitinga und den hoch veranlagten, allerdings im Körperbewusstsein dilettantischen Spielmacher Ronny von der Auflösung ihrer Verträge zu überzeugen.

Ein kompletter Umbau ist allein schon unwahrscheinlich, weil bereits im vergangenen Jahr acht neue Spieler kamen, stolze 14 Millionen Euro hatte Hertha ausgegeben. Auch deshalb steht Michael Preetz nun wieder in der Kritik, dabei war er vor einem Jahr noch für die Transfers gelobt worden.

Bei einigen Spielern ist noch offen, ob sie Fehlbesetzungen sind oder der Abstiegskampf sie lediglich so hat wirken lassen. In dem geht es nicht um schöne Kombinationen und ausgefeilte Taktiken. Dárdai setzte auf eine stabile Abwehr und Konter – eine Spielanlage, die von den Fähigkeiten des Stürmers Salomon Kalou so weit entfernt ist wie Hertha von der Meisterschaft. So, wie Hertha zuletzt gespielt hat, stehen die Spieler im Moment der Balleroberung weit weg vom gegnerischen Tor, 40, 50 Meter. Kalou ist abgebrüht, aber nicht schnell, er ist kein Sprinter, der über das halbe Feld läuft. Ist er also gescheitert?

Ob Spieler funktionieren, liegt eben nicht allein an ihren Fähigkeiten, sondern auch an der Spielweise der Mannschaft. Hertha hat Spieler, die für Ballbesitz stehen, die den Ball genauso gut halten wie blitzschnell in den Lauf eines startenden Angreifers spielen können. Mit Alexander Baumjohann und Tolgan Cigerci waren allerdings zwei Mittelfeldspieler dieses Typs langfristig verletzt. Wann sie zurückkehren, ist offen, und erst recht, ob sie ihr altes Niveau wieder erreichen und der Mannschaft helfen können. Cigerci fehlte fast die komplette Saison, Baumjohann hat nach zwei Kreuzbandrissen seit rund anderthalb Jahren keine Spielpraxis.

Die Hälfte aller Spiele ging verloren. Ein schlechtes Zeugnis, Versetzung geschafft, mit Ach und Krach

Ein guter Trainer muss aus dem vorhandenen herausholen, was geht. Er darf der Mannschaft nicht seine Spielidee aufoktroyieren, sondern muss seine Taktik den Stärken (und Schwächen) der Spieler anpassen. Dárdai muss sich als Trainer beweisen. Kann er, der Abräumer von früher, dem Team eine konstruktive Spielidee vermitteln?

Immerhin: Dank des Einstiegs des US-Finanzinvestors KKR im vergangenen Jahr ist Hertha BSC inzwischen schuldenfrei. Rund 61 Millionen Euro flossen damals in Herthas Kasse, KKR hält seitdem knapp 10 Prozent der vom Verein ausgegliederten Profiabteilung. Im Umfeld weckte das Hoffnungen auf Topstars, die Geschäftsführung nutzte die Mittel aber sinnvoller, nämlich zur Konsolidierung. Seitdem hat sie Kredite zurückgezahlt und einst von Dieter Hoeneß veräußerte Rechte zurückgekauft, die künftig Einnahmen bringen. Große Sprünge sind also verboten, die breitbeinige Hoeneß-Ära ist mahnende Erinnerung. Der langjährige Vereinspatriarch hatte Geld ausgegeben, das noch gar nicht eingenommen war. So etwas soll es in Berlin nicht mehr geben.

Das ist gut, aber in der Vermittlung des Vernünftigen versagt die Vereinsführung. Sie opfert gar das eigene Selbstbewusstsein: „Die Bundesliga befindet sich gerade in einem Wandel“, sagte der Aufsichtsratsvorsitzende Bernd Schiphorst auf der Mitgliederversammlung. Er meinte die steigende Zahl von Vereinen, die durch Sponsoren gepusht werden. Es sei nun die Aufgabe, Hertha BSC so aufzustellen, dass der Verein mithalten könne. Im Bild des Trainers heißt das: Krokodile bleiben auf ewig die anderen.

Allein, das Hadern mit den Möglichkeiten anderer Vereine bringt Hertha nicht weiter – und geht am Problem vorbei: Herthas Spieleretat liegt bei rund 32 Millionen Euro. Borussia Mönchengladbach belegte gerade Platz drei und zog in die Champions League ein – mit einem geschätzten Etat in Höhe von 38 Millionen. Ganz zu schweigen vom FC Augsburg, der weniger als 20 Millionen Euro für sein Profiteam ausgibt und damit Platz 5 erreicht hat. Es bedarf eben nicht nur einer prall gefüllten Geldschatulle, sondern eines guten Scoutings, eines glücklichen Händchens – und ein bisschen Fantasie.

Ja, die Liga ist hart. Das Bild, das die Verantwortlichen vermitteln, sabotiert jedes Gefühl von Aufbruch. Berlin ist wild und bunt und dreckig und arm. Hertha könnte sich dieses Image zu eigen machen, die Rolle des Underdogs erhielte einen eigenen Charme: Hertha als Straßenköter, der den anderen ans Bein pisst. Ein Köter, vor dem selbst die Krokodile den Schwanz einziehen. Es liegt nun an Pál Dárdai, ihn von der Leine zu lassen.