Kreuzberg bejubelt die Anti-Erdogans

WAHLPARTY Die linke HDP schafft erstmalig den Einzug ins türkische Parlament. Der Kotti jubelt

„Wir sind international: Deutsche, Türken, andere – alle feiern“

EIN 50-JÄHRIGER HDP-ANHÄNGER

Partystimmung am Kottbusser Tor: Menschen jubeln, fallen sich in die Arme. Ein Autokorso setzt sich hupend in Bewegung, die Skalitzer Straße in Richtung Oberbaumbrücke. Es ist Sonntagabend, 21.45 Uhr. Gerade wurden im Lokal Südblock die ersten Hochrechnungen der Parlamentswahlen in der Türkei bekannt gegeben. Hier feiern die Berliner Anhänger der HDP, der „Demokratischen Partei der Völker“, einer neuen prokurdischen, linken Partei.

Schon jetzt ist klar: Die AKP, Partei des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, verpasst die absolute Mehrheit und kann nicht mehr alleine weiterregieren. Entscheidend hierfür: der Wahlerfolg der HDP. Sie holt landesweit rund 13 Prozent der Stimmen, überwindet die in der Türkei geltende 10-Prozent-Hürde und schafft erstmals den Einzug ins Parlament.

Der Berliner Ableger der HDP hat sich Ende Januar gegründet, um die türkische Mutterpartei, die bereits seit 2012 besteht, im Wahlkampf zu unterstützen. In der deutschen Hauptstadt leben immerhin 93.000 wahlberechtigte Türken. Das hat geklappt: Laut Daily Sabah, der englischsprachigen Ausgabe einer großen türkischen Tageszeitung, haben in Berlin 20,5 Prozent der WählerInnen die Partei gewählt. Die AKP erzielt mit knapp 44 Prozent in Berlin ein eher schwaches Ergebnis – bundesweit waren es 53 Prozent, deutlich mehr als in der Türkei.

Auf der Bühne im Südblock präsentiert sich der Vorstand der Berliner HDP mit Victory-Zeichen, die Siegesreden werden auf Türkisch gehalten. Bis der Linksparteipolitiker Hakan Tas, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, an der Reihe ist. „Ich spreche jetzt besser mal auf Deutsch. Ich habe nämlich festgestellt, dass ich gar nicht mehr so gut Türkisch kann“, sagt er, bevor er der Partei zu dem Erfolg gratuliert.

Dann beginnt auch im Südblock die Party: Rund 50 Menschen tanzen im Kreis zu türkischer Popmusik, Schnapsgläser machen die Runde. Hakan Tas, eben noch auf der Bühne, mischt sich unter die Feiernden. Er zeigt ein Foto auf seinem Smartphone herum. Darauf: der türkische AKP-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Er verzieht das Gesicht, erkennbar enttäuscht. Tas kommentiert lachend: „Unser Ministerpräsident. Noch.“

Ein HDP-Sympathisant beobachtet das Treiben von der Bar aus. Der 50-Jährige lebt seit 26 Jahren in Berlin. „Siehst du, hier sind wir alle international: Deutsche, Türken, andere – alle feiern zusammen“, sagt er. Sein Kommentar zum Wahlergebnis: „Erdogan muss jetzt endlich gehen. Er ist ein Diktator, ein Faschist.“

Mehtap Erol, die Kovorsitzende der Berliner HDP, ist nicht ganz so zuversichtlich. Sie weiß: Erdogan wird zwar nicht alleine weiterregieren. Aber er könnte eine Koalitionsregierung führen, im schlimmsten Fall mit der rechten MHP, der „Partei der Nationalistischen Bewegung“.

Dennoch ist sie sicher, dass der Erfolg der HDP die politische Kultur in der Türkei verändern wird: „Bestimmte Themen können nun einfach nicht mehr ignoriert werden: die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Rechte von Homosexuellen. Mit der HDP ziehen zwei Homosexuelle ins Parlament.“

Es ist inzwischen 23 Uhr. Draußen vor der Kneipe wird die Menschenmenge immer größer. Es wird gesungen und getanzt. An einem spontan aufgebauten Stand verkauft jemand Köfte. Ein deutscher Gast ist mit zwei türkischen Freundinnen gekommen: „Das ist für mich ganz selbstverständlich“, sagt er. „Wir gehen ja auch zusammen demonstrieren.“ PHILIPP IDEL

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