Auf rutschenden Abhängen

SCHLAGLOCH VON MATHIAS GREFFRATH Nachtasyl in der Berliner Schaubühne. Keine Kritik

■ lebt als freier Autor für Print und Radio in Berlin. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle über die Vision der schönen neuen Automatenwelt des Auto- und Internetministers Dobrindt.

Berlin, ein Tag wie viele. Na ja, vielleicht ein wenig konzentrierter. Gleich am Morgen der gestauchte Alte an der Kasse beim Aldi: eine Schachtel Zigaretten zu vier Euro, Schmierkäse in Plastik, eine weiche Packung Toastbrot, die Tagesration. Erstaunlich viele Frauen unter den Stocherern an den Papierkörben. Betriebsstörung in der S-Bahn, eine halbe Stunde schlechte Luft, Zeit für Zeitungen: Auf dem Kirchentag redet ein Soziologe über die „rutschenden Abhänge“, auf denen wir leben, am Rande von Pflege- und Hühnerfabriken; er fordert den Systemwechsel.

Schult uns für die Roboter

„Lieber Herr Professor“, entgegnet ein Bundespräsident, so viel Freiheiten, so viel Urlaub, so viel Rechtssicherheit hätten wir noch nie gehabt, wir sollten eigentlich in regelmäßigen Abständen dem Wohlstand und dem Wachstum ein Erntedankfest widmen. Des Weiteren: In den USA boomt ein TV-Kanal für die ganz kleinen Babys, die im Vorsprachalter; die Entwicklung der Pflegeroboter für die ganz alten Menschen in den Pflegebetten, die nicht mehr reden, aber immer noch gestreichelt werden wollen, schreitet unaufhaltsam voran. Auf einem brandenburgischen Schloss redet ein Kabinett mit Exportindustrie und angegliederten Gewerkschaften über die kommende Automationsarbeitslosigkeit.

Großer Konsens: Die Ausbildung derer, die Automaten bauen und bedienen, muss dringend verbessert werden. Und weiter: Die Geduld mit den elenden Griechen ist wieder mal am Ende, das Pflegepersonal der Charité streikt für einen menschlicheren Personalschlüssel. Aber an diesem Wochenende immerhin keine Toten im Mittelmeer. Kinder aus deutschen Arbeiterfamilien besuchen selten eine Hochschule, aber das ist eigentlich nicht schlimm, weil wir auch Maurer brauchen. Drei Millionen Menschen „verweilen“ länger als vier Jahre in Hartz IV, ihre Kinder vermutlich also auch; in Neukölln darf man als Juristin mit Kopftuch nicht einmal ein Praktikum im öffentlichen Dienst machen.

Später am Tag: sechsmal keine Obdachlosenzeitung gekauft; keine eigentlich bedrohlichen Begegnungen, bis auf den Bettler mit Vollbart und Dreck im Gesicht, der losbrüllt, er sei kein Raubmörder, drei Fahrradkolonnen mit affluenten Rentnern und ein rollendes Bierfass mit grölenden Schwaben. Auf dem Weg in die Schaubühne bemerkt, dass die Zelte mit den osteuropäischen Obdachlosen neben dem Zoo verschwunden sind.

Im Saal blendet hartes Licht die Premierenbesucher, vorn eine Kanalisationsröhre über zwanzig Meter Bühnenbreite. Aus einem Schlitz rutschen in Zeitlupe Gorkis Asylbewohner, erst einer, dann noch eine, dann alle: der ehemalige Beamte im Satinschlafanzug, der öffentliches Geld in Wodka umgesetzt hat und jetzt von Bohnenkaffee faselt; der bleiche Polizist, den nur die Mütze zusammenhält und der sich in einen winselnden Stupor wichst; der gehörnte Kürschner mit der weinerlichen Stimme, der mit Stammtischsprüchen nervt; der Schauspieler, der von einem kostenlosen Sanatorium im Nirgendwo träumt und aus seinem alkzerfressenen Gehirn die Brocken eines pathetischen Gedichts über das Mitleid klaubt; der Irre; der virile Kleinkriminelle, Sohn schon eines Sträflings, der seiner Unterkunft mit Sperma bezahlt; der Pilger, der bei Gorki vom Glück im Nirgendwo predigt: hier kommt er im weißen Anzug eines Sektengurus, mit gut gesalbtem Bariton, er leistet Sterbehilfe – oder war es doch Sadismus?

Und dazu furchteinflößend fies in ihrer keifenden Seelenlosigkeit und Habsucht, ganz kreatürlich klein in ihrer nackten Geilheit und dann ganz und gar nicht erbärmlich, sondern verzweifelt mörderisch in ihrer Sehnsucht nach Liebe: die Herbergsfurie Wassilissa, ein böses Tier, ein um Liebe meckerndes Schäfchen.

Sie alle sind ganz unwirklich und entfernt, ganz nah und massiv in diesem unendlich langen, engen Stahlrohr, in das die Scheiße rinnt. Fleisch gewordene Schemen, die schon lange in unserer inneren Welt wohnen: die Hexe, der Heilige, die Hure, der Tod und das Mädchen. Sie sprechen hart an der Rampe und bleiben doch bei sich, in unerträglichem Opferstolz, Solisten des Elends, die sich nur zweimal zu Ikonen wie aus Kirchentraktaten zusammenklumpen: wenn der Tod kommt, und wenn die Hure eine Soap von unendlicher Liebe ausmalt, auch wenn sie alle wissen, sie hat es in einem Heftchen gelesen. Wölfische Individuen, ausgesetzte Kinder.

Kalte Dummheit der Kritiker

Vorn eine Kanalisationsröhre über zwanzig Meter Bühnenbreite. Aus einem Schlitz rutschen in Zeitlupe Gorkis Asylbewohner

Später, am Tischgrill auf dem Balkon, sucht unsere begeisterte Ratlosigkeit nach Erklärung. Was war das Geheimnis dieser neunzig Minuten, die uns an die Stuhlkante rutschen ließen? Dieses Sogs, in dem wir die hämmernde E-Gitarre nicht hörten, sondern irgendwo nur fühlten, in dem wir in einen Gefühlsabgrund rutschten, ein emotionales Niemandsland zwischen Stahl und Dämmstoff, gebannt, aber nicht gerührt, in dem die oft gehörten Sätze – „Es gibt Menschen und es gibt Leute“ – ganz frisch waren. Reine, artistische Form und ungeglättetes, rohes Gefühl ohne Psychologie, so rätselhaft zusammengefügt, ganz transparent und undurchdringlich opak, dass man diese Begegnung von Gorki, Michael Thalheimer und dieser grandiosen Schaubühnentruppe dringend bald noch einmal sehen möchte.

Zwei Tage später die erstaunlichen Kritiken: verhalten wortreiche Ratlosigkeit, schiere Dummheit („Mit uns hat das zum Glück nichts zu tun“), Abwehr bis hin zum „Elendsporno“- und „Kitsch“-Verdikt, die sich in technische Bewunderung für Bühnenbild und artistische Virtuosität rettet (wie die das nur geschafft haben, sich auf dem glatten Glitsch nach oben zu ziehen), und dann schließlich doch, Irene Bazinger sei’s gedankt, eine Stimme der uneingeschränkten Begeisterung für die „schneidende Ungemütlichkeit“ und „skulpturhafte Meisterlichkeit“. Für diese Verschwörung auf Zeit, von der das Theater lebt und mit der es, wenn’s denn mal glückt, das Leben beschweren und erhellen kann.

Und eine Erinnerung kam auf, leicht schmerzend, an die Inszenierung von Lars Noréns „Personenkreis 3.1“ in diesem Theater, vor 15 Jahren. Auch damals schon der Kitschverdacht. Aber was soll’s: Morgen gibt’s wieder Yasmina Reza, zum Ausgleich.