KRIMIS FÜRS ALTENHEIM
: Falschnehmung im Unterholz

VON MIGUEL SZYMANSKI

Deutschland lebt in einem Zustand ständiger Paranoia. Um seine Ängste zu überwinden, fabriziert es seine eigene Wirklichkeit. Gegen den Rest der Welt, wenn es sein muss. Und es muss wieder einmal sein.

Es geht nicht darum, dass Deutschland in Europa das Sagen hat. Weit besorgniserregender ist die Tiefe des Grabens, zwischen dem Europa, das Deutschland wahrnehmen und retten will, und dem reellen Europa.

Berlin hat entschieden, wer sein Land leichtfertig in den Abgrund führt. Das sind nach Jahrzehnten korrupter Regierungen in Griechenland die Neuen von Syriza. Verantwortungsvoll dagegen sind die Regierungen in Lissabon und Madrid, die reell in alle möglichen Korruptionsfälle verstrickt sind.

Diese Verzerrung der Wirklichkeit ist nicht nur in der Eurokrise offensichtlich. Sie fängt nicht erst in den Nachrichtenblöcken an, sondern schon viel früher in der ständig wiederholten Fiktion der öffentlich-rechtlichen Sender.

Jede Woche laufen Dutzende von Krimis im Fernsehen. Kein Land der EU produziert nur annähernd so viele Kriminalserien wie Deutschland. Damit eine Schauspielerin oder ein Schauspieler von der breiten Masse wahrgenommen wird, muss sie oder er irgendwo als KommissarIn fungiert haben. Dabei hat Deutschland die zweitniedrigste Anzahl von Tötungsdelikten in 30 europäischen Ländern.

Die deutsche Paranoia resultiert aus der Wechselwirkung zwischen der „Wahrnehmung“ der Welt im eigenen Wohnzimmer, die faktisch eine „Falschnehmung“ ist, und dem „Realitätsangebot“ der Medien, das nicht auf Realität beruht.

In Wirklichkeit sterben Menschen an Altersschwäche in Altenheimen. Also wurde eine Wirklichkeit erfunden, in der es individuell dramatisch und spannend wird. Es ist inzwischen in das Bewusstsein jedes Mitbürgers eingedrungen, dass draußen gerade zwei Kommissare irgendwo anklingeln, weil wieder einmal etwas passiert ist. Und es muss doch etwas passieren, so langweilig kann kein Land sein.

Jeden Abend kommt das große Waldsterben im TV. Eine Frau läuft durch das Unterholz. Ein Mann spaziert mit seinem Hund auf einem Waldweg. Kinder spielen im Wald. Und jeder weiß genau: Gleich passiert was, gleich gibt es wieder eine unter Laub verscharrte Leiche.

Mit dem fiktiven, aber sehr germanischen Waldsterben holen sich Millionen Menschen ihren abendlichen Adrenalinschub, damit sie dann erschöpft ins Bett fallen können. Das, was um sie herum passiert, in Griechenland oder an der Westküste Europas, das blenden sie aus. Nicht im Wald, sondern im Meer an Europas Grenzen sterben jede Nacht Menschen. Aber das war jetzt doch schon ein paar Mal in den Nachrichten. Das wird schnell wieder verdrängt. Das Waldsterben in den Krimis dagegen wird in einem derartigen Rhythmus weitergehen, dass wahrscheinlich der letzte Deutsche im Fernsehen ermordet wird, bevor der letzte Flüchtling in See sticht.