Wenn die Sinne stürzen

EXZESS In einer kleinen Bar in Tokio geben die Menschen nichts auf Tradition. Kiên Hoàng Lê hat lange mit ihnen getrunken, um sie zu fotografieren. Eine Reportage im Rausch

Ein Tresen. Vier Stühle. Hitze, Ekstase, Drogen, Asche, Schreie, Körper, das Rauschen eines fettigen Ventilators an der Wand – seine Sinne waren übereinandergestürzt, als Kiên Hoàng Lê diese Bar betrat. Er wusste direkt, dass er hier hingehört. Er war sofort drin.

„Die Stimmung war geladen“, sagt Kiên Hoàng Lê, der damals schon eine Weile durch die Nacht gezogen war. Mit einem Kollegen durch die Bars, von denen es 400 geben soll im Golden Gai in Tokio. Dem Ausgehviertel, das an das Rotlichtviertel grenzt. Mit Leuchtreklamen überall, Spätkaufshops, Ramen-Suppe, Takeaway. Trotzdem: Jene Bar war anders. Ging über zwei Stockwerke und fasste keine zwanzig Quadratmeter. Brauchte keine Öffnungszeiten, keine Flyer, brauchte nur einen Namen. Hoàng Lê hätte das „Suna No Shiro“ nie gekannt, hätte ihn der Kollege nicht mitgeschleift, damit sie bis mittags tanzen – und sich verschanzen. „Suna No Shiro“, das heißt „Sandburg“.

Sandburg: klingt weltläufig, nach Reisen und Vergessen. Das passt zu Hoàng Lê, 32, der Fotograf in Berlin ist, aber auch in Vietnam zu Hause, wo er geboren wurde. Nach Japan war er gekommen, weil es ihn reizte, ihm „freakig“ erschien. Weniger wie Asien; mehr wie eine Mischung aus Asien und Europa. Dass in Japan die Aufnahmen für seinen Uniabschluss entstanden, war Zufall.

Denn nicht lange, und Hoàng Lê lebte in der Bar. Mit Menschen, die zu ihm gehörten. Viele waren Künstler und Filmemacher, manche Transgender, zwei depressiv, einer manisch-depressiv. Sie alle waren rau, rauer als die Menschen am Tag. Die Aktenkofferträger, U-Bahn-Schächte-Gänger. „In Tokio ist man höflich“, sagt Hoàng Lê, „und Traditionen legt man schwer ab.“

Um 3 Uhr, 4 Uhr, 5 Uhr gab in der „Sandburg“ niemand viel auf Tradition. Einer zerriss sich mal das T-Shirt und band es sich um den Kopf. Einer zündete mal seine Brusthaare an. Eine wollte Zuschauer beim Oralsex.

Türsteher Hiropon, „ein Schrank von einem Mann“, legte seine Lederjacke über die anderen, wenn sie auf dem Boden eingeschlafen waren. Später aß man zusammen, ging für ein paar Stunden in die eigene Wohnung, zog die Vorhänge zu, schlief weiter – und kehrte wieder. Hoàng Lê trank, fotografierte, trank, fotografierte, trank, ließ andere fotografieren. „Dir wird ziemlich viel egal“, sagt er. Seine Nieren schmerzten, als er zurück nach Berlin flog. ANNABELLE SEUBERT

Die Fotos stammen aus dem Bildband „Suna No Shiro“. Er kann unter hoangle.de bestellt werden (84 Seiten, 48 Euro)