Argentinien feiert Einzug ins WM-Finale: Vom Frust zur Freude

Auf dem Weg zum Finale scheint das argentinische Team mit seinen Fans zu verschmelzen. Die ökonomische Misere wird durch die WM-Erfolge überdeckt.

Argentinische Fans auf Laternenmasten

Die Euphorie über die WM-Erfolge treibt die Menschen in Buenos Aires ganz nach oben Foto: Virginia Chaile/imago

Argentinien feiert. Kaum war in Katar der Schlusspfiff im Halbfinalspiel gegen Kroatien ertönt, strömten die Menschen zu Zehntausenden auf die Straßen und Plätze. Die größte Versammlung fand um den Obelisken auf der breiten Avenida 9 de Julio im Zentrum von Buenos Aires statt, auf der die Menschen bei hochsommerlichen Temperaturen bis in die späte Nacht den Einzug ins Finale feierten. Bilder, die auch in Katar ankamen. „Wir fühlen die Unterstützung unserer Landsleute, sie stehen hinter uns. Das ist etwas Unvergessliches“, sagte Trainer Lionel Scaloni, den Tränen nahe.

Es war nach dem 2:1-Sieg im Achtelfinale gegen Australien, als sich weltweit die Fernsehsender aus der Übertragung bereits ausgeklinkt hatten, aber die Bilder aus Katar am Río de la Plata weiter über die Bildschirme flimmerten. Sie zeigten die Mannschaft vor der Fan-Tribüne, die zu einer Einheit verschmolzen. Es war eine Fusion, die sich in diesem magischen Moment an vielen Orten in Argentinien ereignete. Und dass Lionel Messi dabei als Primus inter Pares erscheint, treibt die Liebe seiner Landsleute zu ihm in nicht mehr messbare Bereiche.

Dabei hatte der Schock nach der unerwarteten Auftaktniederlage gegen Saudi-Arabien noch tief gesessen. Nach dem Sieg gegen Mexiko machte sich Erleichterung breit. Die Fans erkannten die Mannschaft wieder, die mit 36 Spielen ohne Niederlage ins WM-Turnier gestartet war, 2021 die Copa América gewonnen und Europameister Italien beim interkontinentalen Vergleich im Finalissima geschlagen hatte. Dass das dritte Spiel gegen Polen gut ausging, lag mehr am lustlosen Gegner als an den beiden Toren der Argentinier.

Die seit dem gewonnenen Achtelfinale bestehende Fusion hielt auch im Viertelfinale gegen die Niederlande. Der kollektive Frust richtete sich gegen den spanischen Schiedsrichter Antonio Mateu mit seiner Gelbe-Karten-Flut und den als tiefes Unrecht empfundenen 10 Minuten Nachspielzeit, in der die Niederländer den 2:2-Ausgleich schafften. Dass sich die Weltpresse nach dem gewonnenen Elfmeterschießen auf die Dummkopf-Aussage von Messi stürzte und sämtliche negativen Klischees über den argentinischen Fußball hervorkramte, bekam in Argentinien kaum jemand mit.

Solidarisierung der Spieler

Stattdessen wurden die Erinnerungen an den italienischen Schiedsrichter Nicola Rizzoli wach, der nach dem spektakulären Eingreifen von Manuel Neuer gegen Gonzalo Higuaín im Finale 2014 keinen Elfmeter gab. Und an den mexikanischen Schiedsrichter Edgardo Codesal, der den Deutschen im Finale von 1990 einen unberechtigten Elfmeter zusprach, der damals zum 1:0-Sieg der Deutschen führte.

Dagegen war das Halbfinale gegen Kroatien geradezu entspannt. Die solide 3:0-Führung bereits 20 Minuten vor dem Abpfiff ließ die Menschen früh darüber nachdenken, an welchen Ort zum Feiern sie nach Spielschluss gehen sollten. Das Ziel war nicht bei allen der Obelisk, viele entschieden sich für die nächste größere Straßenkreuzung.

Dass die WM-Spiele die tiefe Misere im Land überlagern, wissen auch die Spieler in Katar. Das belegen Aussagen wie jene von Torhüter Dibu Mártinez. Wenn sie auf den Platz gingen, sagte er, würden sie an die Menschen zu Hause denken. Oder die von Mittelfeldspieler Rodrigo de Paul: Es wäre gut zu wissen, dass ihre Siege den Menschen Anlass zum Feiern geben. Das sind keine ­leeren Sätze reicher Fußballprofis.

Schon lange waren nicht mehr so viele Menschen zum Feiern auf die Straße gegangen, zumal es auch nichts zu feiern gab: Die Jahresinflation liegt bei 100 Prozent, der Anteil der Armen an der 47-Millionen-Bevölkerung ist auf über 40 Prozent gestiegen. Dabei schaffen es immer mehr trotz geregeltem Einkommen kaum noch bis zum Monatsende. Hinzu kommen ein Präsident und seine Regierung, bei denen schon lange niemand mehr weiß, wer die Richtlinien der Politik bestimmt und, welche die sind. Und eine Vizepräsidentin, die vergangene Woche wegen Korruption zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurde, aber nicht im Traum an einen Rücktritt denkt.

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