Barbara Sichtermann über linke Militanz: „Das wird immer umkämpft bleiben“

Am Ende seien Worte wirksamer als Gewalt, sagt Barbara Sichtermann. Verständnis für die Wut der Protestierenden hat sie aber doch.

Der erschossene Benno Ohnesorg wird am 2. Juni 1967 von Helfenden gehalten

Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967. „Verständlich, dass die gesagt haben: ‚Wir müssen uns zur Wehr setzen‘“, sagt Barbara Sichtermann Foto: dpa

taz: Frau Sichtermann, was haben Sie gedacht, als Sie die Bilder der G20-Proteste gesehen haben?

Barbara Sichtermann: Ich habe mich gefragt, ob es das wert ist. Ist es das wert, wenn sich jemand für so abstrakte politische Forderungen die Arme und Beine bricht und vielleicht sogar Schlimmeres? Ich kann die Wut schon irgendwo nachvollziehen. Aber diese Fetischisierung und Ästhetisierung von Gewalt sollte man kritisch angehen.

Sie kommen ja nun aus der 68er-Bewegung. War es bei Ihnen damals anders?

Man muss sich angucken, wie es damit damals angefangen hat. Der gewaltvolle Widerstand wurde durch Übergriffe der Polizei befeuert. Bis dahin friedliche Protestler wurden auf der Straße eingekreist und verprügelt, wenn nicht mehr. Ich erinnere nur an die Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967. Da ist verständlich, dass die gesagt haben: „Wir müssen uns zur Wehr setzen. Wie sieht es aus mit der Gegengewalt?“ Am Ende stand als Antwort auf die sogenannte Gewaltfrage: Gegen Sachen ja, man kann schon mal einen Zaun einreißen. Wenn man sehr wütend ist, kann man auch die Scheibe einer Bank einschmeißen. Aber man kann keine Menschen gefährden, sonst gefährdet man auch die eigenen Ziele. Daran haben sich natürlich nicht alle gehalten, das zeigt das Beispiel RAF.

Sie und Ihr Bruder Kai Sichtermann haben gerade ein Buch über die Hausbesetzerbewegung geschrieben. War Gewalt ein legitimes Mittel im Kampf gegen eine Wohnungspolitik, die mehr auf Investoren denn auf Mieter ausgerichtet war?

Es gab in der Hausbesetzerbewegung immer wieder Stimmen, die gesagt haben: „All unser friedliches Verhandeln hat nichts verändert. Erst wenn wir wütend wurden und Steine geschmissen haben, kamen wir in die Zeitung – und dann hat manch ein Senat nachgedacht und umgesteuert.“ Da ist ja was dran. Doch wo fangen legitime militante Protestformen an, und wo hören sie wieder auf? Das wird immer umkämpft bleiben. Gewalt komplett abzulehnen, Pazifist zu sein, ist ein ehrenwerter – und einfacher – Standpunkt, den auch viele der Protestierenden in Hamburg vertreten haben. Aber wenn ich mich in einen jungen Autonomen hineinversetze, der sieht, wie die neoliberale Politik überall in der Welt die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher macht, und der dann aus Hilflosigkeit, Wut und Verzweiflung einen Stein oder einen Brandsatz wirft – dann bleibt da irgendwo ein kleines Restverständnis. Es hat keinen Sinn, das nur zu verurteilen und nach schärferen Gesetzen zu rufen. Man muss auch sehen, wo die Kritik dieser wütenden jungen Leute berechtigt ist.

Gewalt ist also Ausdruck von Hilflosigkeit?

Das anarchistische Credo lautet: „Wenn wir keinen lauten Knall erzeugen, dann hört uns niemand.“ Die Konsequenzen, die die RAF daraus gezogen hat – Banküberfälle, Erschießungen – waren natürlich grauenhaft. Damit stimmen heute keine Linken mehr überein. Aber den Weg dahin kann man bis zu einer gewissen Biegung eben schon nachvollziehen. An einer bestimmten Stelle bleibt man dann stehen. Aber diese Stelle ist eben schwer theoretisch zu beschreiben.

geboren 1943, ist Journalistin und Schriftstellerin. Gemeinsam mit ihrem Bruder Kai Sichtermann, Gründungsmitglied der Band „Ton Steine Scherben“, hat sie im Frühjahr 2016 das Buch „Das ist unser Haus. Eine Geschichte der Hausbesetzung“ herausgebracht. Aufbau Verlag, 300 Seiten, 26,95 Euro.

Erinnert Sie die Art, wie die Gewaltfrage heute debattiert wird, an damals?

Das Wunderbare an der Zeit des Häuserkampfes war, dass alles so konkret war. Es ging um wirkliche Häuser und um konkrete städtebaupolitische Konzepte. Praxis und Einsicht, Reden und Handeln ließen sich aufeinander beziehen. Bei G20 ist es viel abstrakter. Deswegen ist auch der Protest kaum vermittelbar. Wenn es dann in Straßenschlachten ausartet, fehlt die „normale“ Bevölkerung, die während des Häuserkampfs zu großen Teilen auf Seiten der Besetzer gestanden hat. Es konnten ja alle nachvollziehen, dass es gut ist, Altbauten zu retten und eine verfehlte Städtebaupolitik anzuprangern. Die Wohnungsnot war für alle offensichtlich skandalös. Hausbesetzung als Angriff auf fremdes Eigentum ist natürlich illegal. Aber es war irgendwie richtig. Es war damals die richtige Antwort auf eine falsche Politik.

Und in Hamburg war das anders?

Bei G20 gab es diese Ebene der Konkretion nicht, es blieben nur der Krawall und die Wut an sich. Das ist irgendwie unbefriedigend und auch unpolitisch. Es ist auch vergeblich. Man muss sehen, dass man die Forderungen konkretisiert – und dann meinetwegen auch Wut produziert.

Und wie könnte das gehen? Man muss die weltpolitischen Konflikte so weit auf die Erde runterholen, dass man sie dingfest machen kann. Am Ende muss schon die Kritik am Neoliberalismus stehen – aber man muss die einzelnen Verbindungen, die Bezugspunkte aufzeigen. Welche verbrecherischen Ausbeutungsprozesse etwa damit zusammenhängen, dass Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Nur die politische Großwetterlage mit einem gewalttätigen Feuerwerk und der Gefährdung von Menschen zu beantworten, überzeugt mich nicht.

Hat die Szene von heute aus der Zeit damals gelernt?

Ich würde sagen, sie ist sich treu geblieben. Die Nichtverhandlerfraktion hat schon damals gesagt: „Wir protestieren nur mit dem ganz großen Ausrufezeichen.“ Einige wollten nur über ihre Häuser verhandeln, wenn die Bundesrepublik aus der Nato austritt. Deren Kinder im Geiste finden wir heute teilweise im schwarzen Block. Da ist natürlich sehr viel Theatralik drin und es ist auch nicht alles zu hundert Prozent ernst gemeint. Aber am Ende kommt doch etwas Praktisches dabei heraus, und zwar: Schaden. Denken die Zeitungsleser und Fernsehzuschauer an das Zeichen, das man setzen wollte, wenn sie blutige Nasen und eingeschlagene Schaufenster sehen? Ich glaube nicht. Ich kann nicht sagen, dass ich die Autonomen überhaupt nicht verstehe. Aber ich würde immer die Sinnfrage stellen, und die scheint mir hier nicht befriedigend beantwortet.

Bevor es zu den gewalttätigen Ausschreitungen in Hamburg kam, hat zunächst die Polizei ihre Aggressivität unter Beweis gestellt. Sie nennen in Ihrem Buch die Frage, wer angefangen hat, „müßig“. Warum? Man kann es immer so drehen, dass „der andere“ schuld war. Wenn ich mir Hamburg angucke, kommt es mir vor wie eine angekündigte Theatervorstellung: Alle wussten, was passiert, und zwar viele Wochen vorher. Genau so ist es dann auch gekommen.

Gewalt oder Verhandeln: Welche Linie verspricht Ihrer Erfahrung nach mehr Erfolg?

Hier in Berlin wurde in den 80er Jahren eine eigene Truppe der Polizei gegründet, die geschult wurde, um mit Hausbesetzern und militanten Demonstranten zu reden. Alle Seiten müssen weg von der Vorstellung, man müsse einander Gewalt antun. Man kann Probleme auch lösen, indem man redet und dann Konsequenzen zieht. Das klingt jetzt nach einem vollkommen hilflosen Pazifismus, und man kann sagen, unsere Welt ist noch lange nicht so weit. Aber das ist der Weg, auf den sie einschwenken muss. Das nimmt auch die Politik in die Verantwortung und heißt, dass etwa Praktiken wie die Spekulation mit Lebensmitteln irgendwann verboten werden müssen. Wie man das in einer Welt des Freihandels und des Neoliberalismus hinbekommt, ist eine gute Frage – aber es ist möglich. Und auch der schwarze Block muss überlegen, wie wir es hinbekommen, dass es keine Obdachlosen mehr am Bahnhof Zoo gibt und keine Flüchtlinge, die sich ins Mittelmeer stürzen, weil sie zu Hause abgeschlachtet werden. Sowohl die Polizei als auch die Autonomen müssen zum Wort finden. Da führt kein Weg dran vorbei, sonst gehen wir alle hops.

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