Beobachtungen an der Urne: Wir hatten die Wahl

Von Zehlendorf bis Tegel: In den Wahllokalen werden am Sonntag einige Überraschungen geboten – von Kochtöpfen in der Kabine bis zu bereits ausgefüllten Stimmzetteln.

In Kreuzberg gibt eine Wählerin am Sonntag ihre Stimme zur Bundestagswahl 2013 ab. Bild: dpa

Es sollte doch nur eine Auffrischung des gelb-blauen Baumhauses sein. Am Wahlwochenende aber hat auch das einen politischer Anstrich. „Soll wohl das letzte Aufbäumen für die FDP sein, hä?“, ruft der Nachbar über den Zaun. Schwedenfarben, Bullerbü? Alles übertüncht von der politischen Farbenlehre. Dass das Gelb doch nicht ganz das Schwarz decken kann, welches die Kinder zwischenzeitlich mal draufgepinselt hatten – ist das nun ein Hinweis darauf, dass die FDP-Zweitstimmen-Kampagne nichts bringen wird?

Am Sonntagvormittag dann, im Zehlendorfer Wahllokal, wird die politische Früherziehung des Nachwuchses jäh gestoppt: „Bedaure, die Kinder dürfen nicht mit in die Wahlkabine“, sagt die Helferin. Mist, das hatten wir glatt vergessen: frei, direkt und allgemein sind die Wahlen – aber eben auch geheim. Was ja auch ganz gut ist: Am Ende hätten man der Kurzen noch im letzten Moment den Mund zuhalten müssen: „Papa, warum kreuzt du denn bei der …“ Zum Ausgleich dürfen die Kinder abends länger aufbleiben – zur Wahlsondersendung auf KiKa.

Next Station Altersheim?

Will der Landeswahlleiter, dass die Pankower ihren Bezirk besser kennenlernen? Zur Stimmabgabe geht es in den Jugendklub M24 in der Mühlenstraße. Letztes Mal war ich in einer Schule. Muss ich in vier Jahren ins Altersheim? Vielleicht ist der Landeswahlleiter aber auch nur Fußballfan. Am Fußballkäfig hinter dem Jugendzentrum flattert die Fahne von Hertha – die spielt nachher noch in Freiburg.

Die Hand auf dem Schlitz

Maue Beteiligung in der Silberstein-Grundschule am Neuköllner S-Bahn-Ring. Politiklehrer Hans-Jürgen Dommermuth lässt seine rechte Hand auf einem Matheheft ruhen, mit dem er den Schlitz der Wahlurne abgedeckt hat. Plötzlich kommt ein Stoß von Leuten auf einmal in den Raum, alte und junge. Vor der Kabine bildet sich eine Warteschlange. „Gib die Stimmzettel mal nicht so schnell raus“, ruft er eine anderen Wahlhelferin gegenüber zu, „sonst staut sich das hier.“ Nach ein paar Minuten hat sich die Menge zerstreut, Dommermuths Hand mit dem Heft ruht wieder lange auf dem Schlitz. „Schade, dass so viele Menschen nicht wählen gehen“, murmelt der Lehrer leise.

Senioren-Gottesdienst

Wahlbezirk 407, Tegel. Gegen neun Uhr schlurfe ich um die Ecke ins evangelische Gemeindezentrum, mein Wahllokal. Die Straßen schimmern in Grau und Beige, von überallher strömen die Senioren zur Stimmabgabe, als wär’s ein Gottesdienst. Wobei zum Gottesdienst ja keiner geht.

„Der Herr bitte zu mir!“ Ah, verstehe, wegen des großen Andrangs werden gleich an zwei Tischen Stimmzettel ausgegeben. Aber nein: Es gibt einen Frauen- und einen Männertisch. Und dann hat mein Männerbetreuer auch noch etliche Stapel vor sich liegen. Meinen Zettel zieht er von dem mit dem Schildchen „Jahrgang 1969–1978“.

Damit ist klar: Ich werde statistisch durchleuchtet. Warum auch nicht? In anderen Ländern ist das längst so, da wählen Weib- und Männlein sogar in getrennten Lokalen. So dick muss es ja nicht kommen, aber ob junge Frauen und alte Männer Peer Steinbrück bevorzugen oder eher umgekehrt, das finde ich schon interessant.

Später erfahre ich: Meins war eines von 104 Wahllokalen in Berlin, wo Geschlecht und Alter erhoben wurden. Bei insgesamt über 1.700! Ich bin also etwas ziemlich Besonderes. Zumal um diese Uhrzeit. Die Helferin kurz vor der Wahlurne setzt einen Strich auf ihre Strichliste, es ist der erste im Feld „1969–1978“. Anwohner aus meiner Alterskohorte sind hier oben dünn gesät – und offenbar schlafen sie noch.

Kontrolle ist besser

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: Neben der Urne in der Neuköllner Rütli-Schule sitzen zwei Männer, einer hebt den Zettel, der den Schlitz verdeckt, der andere führt eine Liste. Auf die Frage, was er zähle, sein Kollege am anderen Tisch zähle doch auch, antwortet er: „Er kontrolliert mich.“ Beide lachen.

Etwas weiter südwestlich in der Legien-Schule kommt gegen 14 Uhr ein junger Blonder mit Kochtopf ins Wahllokal. Ein älterer Wahlhelfer nimmt ihn grinsend in Empfang. „Wir geben uns doch größte Mühe, dass hier alles flink geht, junger Mann! Mittagessen hätten Sie nicht mitbringen brauchen.“

CDU ist schon angekreuzt

Im Wahllokal 107 im Rathaus Kreuzberg hätte sich eine Frau auch das Wählen sparen können. Mit den Worten „Hier ist schon was angekreuzt!“ kommt sie aus der Wahlkabine und hält ihren Stimmzettel hoch. Darauf sind zwei Kreuze für die CDU – aber nicht von ihr, behauptet sie. „Der ist hier liegengeblieben“, sagt ein Wahlhelfer. Eine andere Frau habe ihren ausgefüllten Stimmzettel liegen lassen, statt ihn in die Urne einzuwerfen. Die Wahlhelfer entdeckten das erst später – und warfen den Stimmzettel nicht in die Urne, sondern bewahrten ihn auf. Falls die Frau wiederkäme. Sie beteuern, es sei ein Versehen gewesen, den Schein an eine andere Wählerin auszugeben. Die bekommt einen frischen Zettel.

Das Touristen-Orakel

Zum Wahlausgang in Berlin gibt es bis Redaktionsschluss nur Mutmaßungen im Stile der Blau-Gelb-Exegese beim Zehlendorfer Baumhaus: Vor Angela Merkels Wohnung am Pergamonmuseum etwa lauert kurz vor zwölf nur ein gelangweiltes Fernsehteam. Auf dem Gendarmenmarkt stehen hingegen vier Touristengruppen. Auf dem nach August Bebel benannten Platz aber sogar sechs. Das Touristengruppen-Orakel ist somit eindeutig: absolute Mehrheit für die SPD.

VON STEFAN ALBERTI, GEREON ASMUTH, SEBASTIAN HEISER, GABRIELA KELLER, KONRAD LITSCHKO, SUSANNE MEMARNIA, CLAUDIUS PRÖSSER, UWE RADA, MAJA BECKERS

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