Berlin Fashion Positions: Taschen für das Zurückgelassene

Die ukrainische Designerin Irina Dzhus verarbeitet in ihrer Mode Kriegs- und Fluchterfahrungen. „Thesaurus“ ist ihre neueste Kollektion.

Ein beiges Kleidungsstück, designt von Irina Dzus

Aus dem Lookbook von Irina Dzus' Kollektion „Transit“ für Herbst/Winter 23/24 Foto: Anna Goncharova

Zuerst denkt man an Christo und Jeanne-Claude: Verhüllungen, schwer und schützend. Aber sobald man sie berührt, merkt man, wie leicht die Stoffe in Wirklichkeit sind. Es sind schwerelose Outfits, oft einfarbig, viele Materialien haben beschichtete Oberflächen. Reihen eingesetzter Reißverschlüsse mit dazwischengelegten Falten vermitteln den Eindruck eines gestreckten Akkordeons und verschaffen dem Körper Freiheit: für eine Metamorphose der gesamten Silhouette, eine langsam entfaltbare Plastik, eine tonlose Musik des Körpers.

Die Meisterin dieser Kreationen heißt Irina Dzhus, wir treffen uns auf der Berlin Fashion Positions, einem Teil der Berliner Kunstmesse Positions. Dort wird in kleinen Stellwandecken in zwei Hangars des ehemaligen Flughafens Tempelhof Mode in Installationen inszeniert. Dzhus, die zum ersten Mal dort teilnimmt und selbst fast ausschließlich Schwarz trägt, führt zu ihrer Installation. Sie zeigt Teile ihrer Kollektion für die Sommersaison 2024. Sie heißt „Thesaurus“.

So nennt man große Wörterbücher alter Sprachen, Thesaurus linguae graecae, latinae, aegyptiae. Bei Dzhus ist der Titel nicht metaphorisch. An einer weißen Wand hängen ein mehrteiliger schwarzer Hosenrock, ein BH aus zwei verknüpften Baseballkappen mit einer Weste, zusammengesetzt aus zwei quadratischen Beuteltaschen und ein naturweißes, schlauchartiges Kleid mit langen Handschuhen an den Seiten, geraffte Puffärmel. Aus dem Hosenrock schauen wie Unterröcke die Blätter eines Wörterbuchs heraus, fließen in Bändern aus dem Inneren des Kleids. Dzhus hat „Thesaurus“ zum ersten Mal im Juli auf der Berliner Fashion Week gezeigt.

Hauptgedanke der Kollektion seien die radikalen innerlichen Veränderungen des Menschen, ausgelöst durch die Erfahrung des Krieges, erklärt die Ukrainerin: „Die Leute, die jetzt während des Krieges aus der Ukraine geflohen sind, haben auch im Inneren eine Transformation erlebt. Der Anfang war ein Schock. Die einzige Frage war: Wie kann ich überleben? Mit der Zeit aber stellt man sich die Frage innerlicher, man fragt: Was kann ich nun mit meiner Überlebensexistenz anfangen? Wie baue ich mir als Überlebende eine Existenz in einer neuen Realität?“

Porträt von Irina Dzhus

Die Mode­designerin Irina Dzhus vor ihrer ­Installation bei der Berlin Fashion Positions Foto: Yelyzaveta Samsonova

Der Evakuierung gewidmet

Dzhus' voherige Kollektion, die sie Anfang des Jahres bei der Berliner Fashion Week gezeigt hatte, hieß „Transit“. Es war ihre erste während des Krieges entstandene Kollektion: „Sie war der Evakuierung gewidmet und den notwendigen, fundamentalen Veränderungen, die Personen in extremen Situationen von außen zustoßen, Veränderungen, durch die der Mensch in solch extremen Situationen leben und überleben kann,“ sagt sie.

„Thesaurus“ erzähle von den individuellen psychologischen Folgen: „Aufgrund der Katharsis durch die extreme Situation ist der Mensch in dieser nächsten Phase ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Und du fängst an, alle deine eigenen Lebensmaterien und Lebenswerte von Neuem zu untersuchen. Dadurch eröffnen sich individuelle Eigenschaften deiner Persönlichkeit, die du vorher überhaupt nicht gekannt hast.“

Für „Transit“ hatte Irina Dzhus in ihre Mode ganz neue Designelemente eingeführt. Am auffälligsten: die Taschen. Etwa bei einer langen Jacke, die komplett aus weißen, wie Schuppen aufgesetzten Taschen besteht. Und jüngst auf der ukrainischen Kunst- und Modemesse Motanka zeigte sie ein einfaches und geniales Kunststück: eine schöne weiße Tasche mit drei Reißverschlüssen an den Seiten und im Boden. Man öffnet sie – und schon wird aus der Tasche ein Top, ein Loch für den Kopf und zwei für die Arme.

Die Taschen beschreibt sie als eine optische wie funktionale Idee: „Man kann nur das Wichtigste mitnehmen. Mit diesem Schritt wollte ich sagen, dass es mir so leidtut, nicht mehr mitnehmen zu können in unsere neue Realität, nicht mehr Dinge aus unserem alltäglichen Leben.“ Im Prozess der Massenevakuierungen habe es oft kaum Zeit gegeben, alle Sachen zusammenzupacken, oder im Auto war kein Platz mehr.

„Viele Leute haben nur symbolische Sachen mitgenommen, die ihnen wichtig waren, kleine Figürchen etwa, die sie immer bei sich haben wollten. Es waren ganz unpraktische, wenig nützliche kleine Dinge, die nur einen persönlichen Wert haben, etwas, was man im neuen Leben braucht, um seine Persönlichkeit festhalten zu können.“

Genderneutrale Mode

Darauf sei ihre Idee mit den Taschen zurückzuführen. „Viele dachten, es sei alles nur vorübergehend und schnell vorbei, aber jetzt weiß niemand mehr, wie lange man noch weiter in eine andere Realität transportiert wird.“ Für kurze Zeit kann man überall leben, ohne feste Verbindungen knüpfen zu müssen, aber was, wenn man doch lange bleiben muss?

Die neuen Realitäten rühren bei Dzhus auch Fragen der Gender-Identität an: „Der Mensch, der in Stereotype versunken ist, hat Angst, über seine Persönlichkeit, seine Identität in der Öffentlichkeit zu sprechen. Aber extreme Umstände bringen ihn zum Reden.“

Dzhus sagt, erst in letzter Zeit habe sich ihre Marke in Richtung genderneutrale Mode entwickelt. Plötzlich sei Unifizierung des Schnitts, Unisex in der gesamten Silhouette ein wichtiger Aspekt geworden. Vor dem Krieg habe sie auch in den Lookbooks Genderneutralität nie besonders betont. Das sei nun anders: „Die Umstände verändern fundamentale Begriffe von Mensch und Persönlichkeit.“

Irina Dzhus ist 1988 in Kyjiw geboren und lebt derzeit im polnischen Warschau. Sie verbrachte ihre Kindheit in der Oblast Charkiw, wuchs dort bei ihren Großeltern auf, die sie als „vorbildliche, sowjetisch geprägte Persönlichkeiten“ beschreibt. Der Großvater war Leiter eines großen Agrokomplexes, die Großmutter war Lehrerin und investierte viel Zeit darin, dem Kind Sprechen und Schreiben beizubringen. Mit drei Jahren habe sie schon schreiben können, berichtet Dzhus: „Ich war sozusagen Opfer einer vertieften linguistischen Erziehungsmethode.“

Frühkindlicher Berufswunsch

Auch gezeichnet habe sie viel mit der Oma. Der Berufswunsch Modedesignerin bildete sich schon früh heraus. Es gab im Haus der Großeltern Mitte der 1990er Jahre eine Menge sowjetischer Modezeitschriften und Bücher über Schnittkonstruktion und Nähen. Auch in der ökonomisch schwierigen Situation der unabhängigen Ukraine hatten sich alle, wie zu Sowjetzeiten, selbst die schönsten Sachen genäht, und sie fing an, Kleider für Puppen zu nähen. Mit sieben gab sie eine eigene handgezeichnete Modezeitschrift heraus.

Als Dzhus zu ihren Eltern nach Kyjiw zurückkehrte, kam sie in eine Kunstschule für Kinder, eine einzigartige ihrer Art in Bezug auf das Niveau und Format: Die Kinder wurden von Lehrern begleitet, die allesamt bekannte ukrainische Künstlerinnen und Künstler waren. Nach der Schule begann sie an der KNUTD, der Kyjiwer Nationalen Universität für Technologie und Design, ein Studium in „Künstlerische Projektierung der Erzeugnisse der Textil- und Leichtindustrie“. Aber die Enttäuschung war sehr groß, vieles war grundsätzlich veraltet.

Ihre wichtigsten Prägungen erhielt die Designerin daher vor und nach dem Studium. Mit 14 bereits machte sie die Bekanntschaft mit der Designerin Viktoria Krasnova, die mit ihrer sehr avantgardistischen und konzeptionellen Auffassung von Mode eine Berühmtheit der damaligen ukrainischen Modeszene war. In Dzhus' Entwürfen habe Krasnova sofort gesehen: Hier denkt jemand die Mode neu!

Es ist erstaunlich, wie grundsätzlich Irina Dzhus oft über Mode nachdenkt. Einmal sagt sie: „In der Kunst gibt es keine Grenze, sie ist metaphysisch. Im Design gibt es diese Grenzen. Design ist dialektisch.“

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