Berliner Adventskalender: Giselastraße 12

Der Laden im Erdgeschoss sieht aus wie eine Arztpraxis mit Lamellen hinter den Fenstern - doch es ist eine Galerie.

Bild: Kathleen Fietz

Jedes Haus hat eine Nummer. Doch was dahintersteckt, wissen nur wenige. Zum Glück gibt es Adventskalender: Da darf man jeden Tag eine nummerierte Tür öffnen - und sich überraschen lassen.

Um zu der Tür zu gelangen, die es heute zu öffnen gilt, muss man an einer Reihe leer stehender, ziemlich verfallener Altbauten vorbei. Nur einige Bauarbeiter, die Häuser sanieren, sind auf der Lichtenberger Giselastraße zu sehen. Wenn sich die Presse hierher verirrt, will sie meistens über Rechtsextreme berichten. Die Weitlingstraße, in der Neonazis schon 1990 ein Haus besetzten und die bis heute als Hochburg der rechten Szene gilt, ist nur wenige Ecken entfernt.

Auf die Altbauten folgen neue Häuser in Rosa und Beige - und da ist sie, die Nummer 12. Der Laden im Erdgeschoss sieht aus wie eine Arztpraxis mit Lamellen hinter den Schaufenstern. Doch hier gibts keine Medizin, sondern Kunst. Das verrät das Schild "Galerie" an der Glastür.

So wenig wie die Kunsthandlung von außen wie eine Galerie aussieht, wirkt Ingo Knechtel wie ein Galerist. In gelbem Pulli und Jeans sieht er eher aus wie ein Sozialarbeiter, und in gewisser Weise ist er das auch. Der 55-Jährige ist Geschäftsführer des Kulturrings, eines gemeinnützigen Vereins, der die Galerie betreibt und Kulturprojekte für Jugendliche organisiert. "Ost-Art" - der Name der Galerie ist Programm. Hier werden vor allem Werke von Künstlern ausgestellt, die in der DDR geboren wurden.

Eine blaue Pappe mit einem winzig kleinen aufgeklebten Schwan - Schwanensee heißt das Werk - hängt neben schwarzen Pinguinen auf weißem Untergrund. An einer anderen Wand gibt es Tuschezeichnungen auf alten Ausgaben der russischen Zeitung Prawda. Große schwarze Augen sind auf die kyrillischen Texte gemalt, rote dicke Tränen tropfen kitschig auf Zweige. Die 20 Bilder an den weißen Wänden sind alle von russischen Künstlern. Ingo Knechtel entschuldigt sich. Eigentlich sollte eine in Stralsund geborene Künstlerin ausstellen. Aber ihre Arbeiten waren zu großformatig für die kleine Galerie. Ein befreundeter Sammler sprang ein und lieh der Galerie einen Teil seiner Sammlung. Und Russland ist ja schließlich auch Osten.

Nach der Eröffnung der Galerie 1996 hingen hier unter anderem Werke der bekannten DDR-Maler Arno Mohr und Walter Womanka. Arno Mohr wurde durch seine Porträts von Bertolt Brecht und Helene Weigel in den 70er-Jahren bekannt. Der Staatsmaler Walter Womacka war 20 Jahre lang Rektor der Kunsthochschule Weißensee. "DDR-Künstler hatten nach der Wende kaum Ausstellungsmöglichkeiten. Wir wollten eine Galerie, um zu zeigen, wie Künstler aus dem Osten die Wende verarbeitet haben", erklärt der Galeriebetreiber. Und die sollte in Lichtenberg sein. Denn der Bezirk drohte bereits in den 90er-Jahren zur kulturellen Einöde zu werden. "Die meisten kommunalen Kultureinrichtungen haben zugemacht, und die Rechten breiten sich immer mehr aus", beklagt Knechtel. Dass hier auch Kunstliebhaber leben, will er mit der Galerie zeigen. Und die Lichtenberger danken es ihm: "Hier zwischen den Gleisen, inmitten Lichtenberger Mietskasernen, drei märkische Kiefern von Arno Mohr. Das tut schon gut", hat eine Besucherin ins Gästebuch geschrieben.

Im Bezirk künstlerisch präsent zu sein ist für Knechtel inzwischen wichtiger als das Anliegen, ostdeutsche Künstler zu unterstützen. "Die scharfe Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es nicht mehr, und wir werden auch Kunst aus Osteuropa zeigen." Auch die Mainzer Künstlerin Gertrude Deggenhardt stellte hier vor einem Jahr aus. Die habe mit dem Label "ost" zwar nichts zu tun, stehe aber politisch auch links, erklärt Ingo Knechtel die Ausnahme. Und nicht nur Lichtenberger besuchen die Ausstellungen: Franz Müntefering, bis vor kurzem noch Bundesarbeitsminister, kam vor einem Jahr zu der Deggenhardt-Ausstellung und kaufte drei Bilder der Künstlerin.

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