Bild des Jungen von Aleppo: Traumatisierung bei der Arbeit

Kinder sind darauf angewiesen, Erwachsenen vertrauen zu können. Das Bild von Omran Daqneesh zeigt: Sie können es nicht.

ein mit Staub bedeckter und blutverschmierter Junge sitzt in einem Notarztwagen und fasst sich an den Kopf

Ruhe, weiter nichts Foto: dpa

Der Junge weint nicht. Keine Anklage, nichts. Dabei hätte er alles Recht der Welt zum Weinen. Man begreift sofort, was einen an diesem Foto so blitzartig ergreift. Es ist der Blick. Es sind die großen, weit offenen Augen. Es ist der Ausdruck absoluter Verlorenheit.

Der Junge wird gerade gerettet, er sitzt in einem Krankenwagen, aber durch die Realität, die ihn umgibt, sieht er einfach hindurch. Die Augen sehen aber auch nicht den Schrecken der Bombardierung, den der Junge soeben erlebt hat. Man sieht ihm an, dass er noch gar nicht begriffen hat, was ihm passiert ist. Die Augen sehen ins Leere.

Durch den Bildausschnitt wird die Wirkung sehr verstärkt. Dieses Foto, man weiß das alles ja inzwischen, ist Teil einer Videosequenz. In ihr sind auch andere Kinder zu sehen. Um die Welt gingen aber vor allem die Ausschnitte, in denen der fünfjährige Omran Daqneesh allein und isoliert auf dem Notsitz sitzt. Die geraden, rechtwinkligen Linien rechts und links, die Linien in der Rückbank des Sitzes, die auf ein Zentrum zufluchten – das alles spricht für Ordnung, Zentriertheit, Zivilisation. Nur dieses seltsame Orange sorgt für Unruhe, und wie zum Hohn sind rechts die Wörter „First Aid“ wie durchgestrichen. Und die Augen des Jungen sind starr, als könne nichts mehr ihrem Blick Halt geben. Von ihnen aus erscheint die Klarheit des Bildes als falsche Ordnung.

Man ist versucht zu projizieren: Ist das der Moment, in dem der Junge zu realisieren beginnt, was ihm in der Welt der Erwachsenen, die in Syrien eine Welt des Kriegs ist, bevorsteht? Aber das ist zu erwachsen gedacht. Man sieht, der Junge versucht, sich möglichst unauffällig zu benehmen. Er ist ein artiger, ein braver Junge. Er wird alles mit sich machen lassen, was Ärzte und Krankenschwestern gleich mit ihm machen werden. Aber er sieht auch willenlos aus, wie eine Puppe. Am liebsten wäre er gar nicht da. Man kann auf diesem Bild der Traumatisierung bei der Arbeit zusehen.

Bilder einer gewaltigen Ungetröstetheit

Das berühmte Foto der vor dem Napalm weglaufenden viet­namesischen Kinder war ein Bild des expressiven Leidens. Das Bild aus Aleppo ist anders. Es ist eher ein Moment einer traumhaften – oder albtraumhaften – Ruhe in ihm, und darin ist es dem Foto von dem an den Strand gespülten Flüchtlingskind verwandt, das einen vor einem Jahr so beschäftigte. Wie bei dem ertrunkenen Flüchtlingskind ist die Körperhaltung des Jungen von Aleppo ganz ergeben, darin liegt der Schock, der von ihnen ausgeht. Kinder sind darauf angewiesen, den Erwachsenen vertrauen zu können. Beide Bilder erzählen davon, dass sie es nicht können. Es sind Bilder einer gewaltigen Ungetröstetheit.

Der Junge hat ja noch Glück gehabt. Viele andere sterben in Aleppo. Das Blut und die Asche und den Staub wird man von seiner Haut waschen können. Aber wird dieser Junge, der einen noch nicht einmal mehr ansehen kann oder mag, sich je wieder trösten lassen? Darin liegt die Anklage.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.