Boom in Brasilien: Kaufen gegen die Krise

Kredite aufzunehmen hat in Brasilien Tradition, das Land hat eine der niedrigsten Sparquoten weltweit. Das Finanzgeschäft gehört hier zu den lukrativsten überhaupt.

Über die Krise erhaben: Die Brasilianer kaufen, statt zu sparen . Bild: ap

PORTO ALEGRE taz | Es ist Sonntagnachmittag im Autohaus Metrovel, und die Kunden geben sich die Türklinke in die Hand. Risolete Ewald hat sich zum Kauf eines VW Golf entschlossen und lässt sich die Konditionen der Ratenzahlung erklären. Die Enddreißigerin mit dem blondierten Haar, von Beruf Kellnerin, ist überglücklich: Für ihr erstes Auto hat sie den halben Preis angespart, umgerechnet um die 7.000 Euro. Den Rest stottert sie in 36 Monatsraten "zu vorteilhaften Bedingungen" ab.

Ihr Nachbar Antonio da Silva wäre für so einen Deal nicht zu haben. "Ja, die Kredite sind günstiger als früher", meint der 56-Jährige, der als Berater mitgekommen ist, "aber unter dem Strich zahlst du dann doch das Doppelte, und dann noch die laufenden Kosten …" Er habe stets nach der Devise "Zuerst sparen und dann ausgeben" gehandelt.

Damit gehört er in Brasilien zu einer Minderheit. Um die 60 Prozent seiner Landsleute sind verschuldet, ihre Einkäufe begleichen sie vorzugsweise mit Kreditkarten aller Art. Vier von fünf Kunden zahlen in dem Autohaus im Norden Porto Alegres auf Pump, berichtet Filialleiter João Cardoso, manche gar in 72 Monatsraten mit einem monatlichen Zinssatz von 1,3 Prozent. Er wundert sich: "Ich habe manchmal Kunden, die verdienen gerade den doppelten Mindestlohn", also um die 500 Euro im Monat.

"Als die Regierung auch noch zeitweise die 7-prozentige Industriesteuer für Kleinwagen aufgehoben hatte, war das hier ein Tollhaus", erinnert sich Cardoso. "Im März gab es einen kleinen Kater", sagt er, aber seitdem steige der Umsatz wieder konstant. "Es gibt mehr Arbeit, die Löhne steigen, und gerade hat Brasilien Deutschland bei der Anzahl der verkauften Autos überholt", sagt Cardoso stolz. 1,9 Millionen waren es in den ersten sieben Monaten des Jahres, in dieser Weltrangliste liegen jetzt nur noch die USA, China und Japan vor Brasilien.

"Da die Leute insgesamt mehr Geld in der Tasche haben, scheint das auch volkswirtschaftlich gut zu gehen", vermutet der Verkäufer. Die Statistik gibt ihm recht: Die Fälle von Zahlungsunfähigkeit unter den Autokäufern nehmen seit Monaten konstant ab, meldet der Dachverband der einschlägigen Kreditinstitute, nur noch 3,4 Prozent seien im August "pleite oder mehr als drei Monate im Verzug" gewesen.

Man darf getrost davon ausgehen, dass solche Erfolgsmeldungen mit Bedacht lanciert werden, denn das Finanzierungsgeschäft gehört in Brasilien zu den lukrativsten überhaupt. Viele Kaufhausketten verdienen bereits mehr über hauseigene Kreditinstitute als über den eigentlichen Warenverkauf. Staatliche wie private Banken fahren deswegen einen Rekordgewinn nach dem anderen ein, im Krisenjahr 2009 lag er umgerechnet bei rund 10 Milliarden Euro.

Geringe Teuerung

Dass man auch relativ geringe Beträge gern in Raten abstottert, hat in Brasilien Tradition. In den stürmischen Achtzigerjahren konnte man dadurch der rasanten Inflation ein Schnippchen schlagen. Inzwischen ist die Teuerungsrate längst einstellig, doch diese Zahlungsgewohnheiten sind tief verwurzelt.

Und gespart wird immer noch wenig: Während die Chinesen im Schnitt fast 40 Prozent ihres Nettoeinkommens auf die hohe Kante legen, bringen es die Deutschen auf gut 12, die Brasilianer auf nicht einmal 8 Prozent. Volkswirtschaftlich bildet Brasilien mit einer Sparquote von 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zusammen mit der Türkei das Schlusslicht unter 24 Schwellenländern.

"Wir Brasilianer handeln nicht so rational, nicht so kantianisch vernünftig wie etwa die Deutschen", sagt Emil Sobottka, Soziologieprofessor an der Katholischen Universität von Porto Alegre. Die meisten seiner Landsleute, "zumal die von der unteren Mittelschicht abwärts, rechnen nicht nach, was etwas kostet, sondern ob man die betreffende Monatsrate bezahlen kann".

Für ihn findet diese "wirtschaftliche Verantwortungslosigkeit" in der Makroökonomie ihre Entsprechung. Die astronomisch hohe Staatsverschuldung - derzeit beläuft sie sich auf umgerechnet 877 Milliarden Euro - werde von einer Politikergeneration an die nächste weitergereicht. Das Wahlvolk fordere von den Politikern kaum Rechenschaft über ihre Haushaltspolitik: "Wenn ein Fußballstadion 250 Millionen kostet statt 100, wen regt das schon auf?"

Wem das Einkommen gerade für das Nötigste reicht, der ist auf Ratenkäufe geradezu angewiesen. "Ich brauchte einfach einen neuen Kühlschrank", sagt Maria Dorneles, die dafür umgerechnet 50 Euro im Monat abzahlt. Seit ihrer Jugend arbeitet sie als Putzfrau, für ein eigenes Konto hat es nie gereicht.

Doch nun wird die dynamische Afrobrasilianerin 60 und freut sich auf die gut 300 Euro Rente, die jetzt zu ihren Einkünften hinzukommen - denn arbeiten wird sie weiterhin. "Aber zum ersten Mal in meinem Leben kann ich ein bisschen etwas auf die hohe Kante legen", hofft sie. Das dürfte schwierig werden, denn sie lebt das, was Soziologe Sobottka als "ausgeprägte Solidarität in der Unterschicht" bezeichnet: Sie versorgt ihren aidskranken Bruder, nimmt wochenlang Verwandte auf und steht in Notfällen auch als Bürgin bei Kredithaien für sie gerade.

"Für ärmere Brasilianer ist es eine Sache der Ehre, Schulden wieder zurückzuzahlen", weiß Sobottka, "die Mittelschicht sieht das viel laxer." Hochzeiten oder 15. Geburtstage für Mädchen werden hingegen überall gern in Saus und Braus gefeiert. Fernseher, Handys oder Autos sind beliebte Statussymbole, klassenübergreifend.

Im Wahljahr 2010 wird das Wirtschaftswachstum durch besonders hohe Staatsausgaben zusätzlich stimuliert: Um 8,8 Prozent wuchs das Bruttoinlandsprodukt von April bis Juni 2010 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, die Prognose für das Gesamtjahr liegt bei gut 7 Prozent.

Ähnlich stattliche Wachstumsraten waren auch im vergangenen Jahrhundert nichts Besonderes, zumindest bis 1980. Von 2003, dem ersten Amtsjahr von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, bis 2008 erlebte ganz Südamerika einen regelrechten Rohstoffboom. Brasiliens Regierung verfolgte ein konservative Finanzpolitik, aber diversifizierte bei den Handelspartnern und verringerte dadurch die Abhängigkeit von Europa und den USA. In der Weltwirtschaftskrise zahlte sich das aus, und Lulas Wirtschaftsteam milderte deren Auswirkungen zusätzlich durch eine antizyklische Ausgabenpolitik ab. Und die Armen haben mehr denn je am Boom partizipiert: Zwischen 2003 und 2008 sind fast 20 Millionen BrasilianerInnen in die untere Mittelschicht aufgestiegen. Maßgeblich dabei war die konstante Erhöhung des Mindestlohns. Unter Lula stieg er real um 54 Prozent.

Populärer Präsident

Über das Sozialprogramm Bolsa Família (Familienstipendium), das monatliche Zuschüsse von umgerechnet 10 bis 91 Euro pro Haushalt gewährt, wird die Kaufkraft von über 12 Millionen armen Familien gestärkt.

"Vier von fünf Familien haben angegeben, dass sich ihre finanzielle Lage verbessert hat", kommentierte Márcio Pochmann, der Leiter des staatlichen Wirtschaftsforschungsinstituts Ipea, die jüngste Studie aus seinem Hause. Kein Wunder, dass sich die Popularitätswerte von Präsident Lula ebenfalls um die 80-Prozent-Marke bewegen. Und seine Wunschnachfolgerin Dilma Rousseff steuert auch deswegen einem ungefährdeten Wahlsieg entgegen - anders als Lula 2002 und 2006 könnte sie sogar im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit schaffen.

Die umweltpolitischen Auswirkungen der Wachstumskurses sind im Wahlkampf noch weniger Thema als sonst. Selbst die grüne Kandidatin Marina Silva will im Kern Lulas Wirtschafts- und Sozialpolitik fortsetzen, mit Konsumkritik würde sie nur auf Unverständnis stoßen.

Die Mittelschicht fliegt mehr denn je, in den Duty-Free-Shops der Flughäfen bilden sich lange Schlangen. Auf den beliebtesten Inlandsrouten wetteifern die Fluglinien mit Sonderangeboten. Doch wegen des starken Reals seien Pauschalreisen ins Ausland derzeit der absolute Renner, berichtet Susana Hubert vom Reisebüro TSA in Porto Alegre und schätzt: "Seit fünf Jahren steigt unser Umsatz pro Jahr um gut 20 Prozent".

Für das diesjährige Weihnachtsgeschäft sagen Wirtschaftsforscher bereits einen neuen Rekord voraus: Dank des 13. Monatsgehalts und günstigerer Darlehen sollen bis Jahresende noch einmal umgerechnet 60 Milliarden Euro in die Volkswirtschaft gepumpt werden, über 12 Prozent mehr als im Vorjahr. Der Löwenanteil gehe auf das 13. Monatsgehalt zurück, heißt es in der Ipea-Studie, der durchschnittliche Reallohn sei in diesem Jahr um knapp 5 Prozent gestiegen, die Anzahl der "formalen" Arbeitsplätze um 4,5 Prozent. Seit 2003 wurden über 14 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, die meisten davon im Dienstleistungssektor.

Im Shopping Total, mit seinen knapp 500 Läden einer der zahlreichen Konsumtempel von Porto Alegre, sieht es schon jetzt aus wie vor Weihnachten. An den Wochenenden platzt der riesige Parkplatz aus allen Nähten, Tausende drängen sich voll bepackt in den Computershops und Kleiderboutiquen. "So etwas habe ich noch nie erlebt", sagt die langjährige Verkäuferin Francisca Freitas. Und der Kaufrausch geht weiter: In einem Nachbarviertel ist bereits ein neues Einkaufszentrum in Planung.

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