Brief an den Weihnachtsmann: Dichtung und Wahrheit

Meine Tochter Hatice hat dem Weihnachtsmann geschrieben. Ich habe den Brief auch zu lesen bekommen und war sprachlos.

Ein Brief an den Weihnachtsmann liegt im Briefzentrum Pattensen in der Region Hannover.

Hatice ist mit ihrem Brief nicht allein: Post für den Weihnachtsmann gibt es jedes Jahr tausendfach Foto: dpa | Julian Stratenschulte

„Mein lieber Onkel Weihnachtsmann, wie geht’s Dir? Und wie geht’s deinen Rentieren dort oben am Nordpol? Ich weiß, dass Du mich in ein paar Tagen besuchen wirst, um mir meine Weihnachtsgeschenke zu überreichen. Ich schreibe Dir jetzt auch früh genug, damit Du noch reichlich Zeit hast, bis dahin alles zu besorgen.

Lieber Onkel Weihnachtsmann, mein Name ist Hatice Engin. Ich bin acht Jahre alt und mir geht’s leider nicht so gut. Meine richtigen Eltern sind vor drei Jahren gestorben.

Seitdem bin ich nur noch am Weinen. Davor eigentlich auch, aber alles der Reihe nach: Mein brutaler Vater Osman und meine schlimme Mutter Eminanim sind an einem Wintermorgen mit ihrem Auto die Klippen hinunter gestürzt. Natürlich hatte mein Vater wie immer morgens jede Menge Alkohol getrunken, bis er dann sturzbesoffen auf mich und meine Geschwister eingeprügelt hat. Meine Mutter, die eine richtige Schlampe war, hatte auch keine Lust für uns Essen zu kochen und wollte lieber mit meinem Vater in die Kneipe gehen, um sich richtig einen zu ballern.

Lieber Onkel Weihnachtsmann, mit drei Jahren hat mein Vater mich zu einem Schuster gegeben. Ich musste den ganzen Tag dreckige Schuhe putzen und habe nichts zu Essen gekriegt. Jede Nacht habe ich in meinem kalten Zimmer fürchterlich geweint. Und mindestens einmal im Monat haben mich meine Eltern im Wald oder auf der Autobahn ausgesetzt.

Ich möchte nicht, dass du mich bevorzugst. Aber wenn doch, sage ich nicht nein

Als ich einmal sehr schlimm krank war und nicht mehr bei dem bösen Schuster arbeiten konnte, haben meine grausamen Eltern mich dann zum Betteln gezwungen. Und anschließend auch noch das Geld weggenommen, damit sie sich noch mehr besaufen können. Dafür hat mir meine Mutter ständig vergiftete Äpfel zum Essen gegeben, weil sie nicht damit klar kam, dass ich viel hübscher war als sie.

Lieber Onkel Weihnachtsmann, das Leben als Vollwaise ist kein Zuckerschlecken, sag ich Dir! Aber ich möchte nicht, dass Du Mitleid mit mir bekommst und mich anschließend mit Deinen Geschenken über alle Maßen bevorzugst. Aber wenn doch, dann sage ich nicht nein. Das ist Deine Entscheidung und ich muss es akzeptieren.“

Als ich Hatices Brief an den Weihnachtsmann lese, bin ich sprachlos! „Sag mal, meine liebe Tochter Hatice, du glaubst also, dass wir dich adoptiert haben?“, zische ich.

„Papa, hast du mir nicht gesagt, dass man keine fremden Briefe lesen darf?“, tut sie auch noch beleidigt.

„Das ist richtig! Aber du bist ja nicht fremd. Du bist meine Tochter, obwohl du anscheinend anderer Meinung bist.“

„Papa! Ist doch klar, dass der Weihnachtsmann für so ein armes, kleines Waisenkind mehr Geschenke ranschleppt, als für die anderen. Zuerst wollte ich ihm ja auch die Wahrheit sagen, dass du noch lebst und was für ein elender Geizkragen du bist. Aber warum stellst du dich denn überhaupt so an? Außer, dass ihr tot seid, stimmt doch alles!“

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