Bürgergeld und Kindergrundsicherung: Vorsicht, vergiftete Erzählungen!

Nur sehr wenige richten sich mit einer Kombi aus Schwarzarbeit und staatlichen Hilfen ein. Die Hunderttausenden Bedürftigen sollten dafür nicht in Geiselhaft genommen werden.

Ein Kind den Nachtisch zu seinem Mittagessen

Niemand ist davor gefeit, in die vulnerable Gruppe der Hil­fe­emp­fän­ger:in­nen zu geraten Foto: Uwe Anspach/dpa

Man brauchte Geduld, um das Auf und Ab beim Thema Bürgergeld und Kindergrundsicherung in der vergangenen Woche zu verfolgen, doch es lohnte sich. Denn Po­li­ti­ke­r:in­nen rechtfertigten ihr Vorgehen, ihre Haltung durch altbekannte vergiftete Erzählungen über Minderheiten, und wer diese genauer anschaut, lernt jetzt dazu.

Die Achterbahnfahrt begann am Montag, als Ministerin Lisa Paus (Grüne) gemeinsam mit Christian Lindner (FDP) und Hubertus Heil (SPD) die Kindergrundsicherung vorstellte. 2,4 Milliarden Euro mehr soll es im Jahr 2025 für bedürftige Familien geben. Das ist wenig angesichts der über 40 Milliarden Euro, die die Grundsicherung für Arbeitssuchende insgesamt kostet. Lindner erklärte zur Rechtfertigung, es gebe keine „generellen Leistungsverbesserungen“, denn man wolle „Erwerbsanreize“ erhalten.

Zum Beispiel wolle man „kein Signal“ setzen, dass sich die zurückgehende Erwerbsbeteiligung von Alleinerziehenden „verfestige“. Tatsächlich ist die Erwerbsbeteiligung Alleinerziehender im vergangenen Jahrzehnt beständig gestiegen. Lediglich in den vergangenen zwei Jahren ging die Erwerbstätigkeit geringfügig zurück, auch weil die Pandemiemaßnahmen die Kinderbetreuung einschränkten und Jobs verschwanden.

Lindner sagte auch, man wolle „keine Anreize“ für So­zi­al­leis­tungs­emp­fän­ge­r:in­nen setzen, die sich „nicht um Integration und bessere Sprachkenntnisse“ bemühten. Damit suggerierte er, Eltern mit Migrationshintergrund könnten sich wegen einer zu hohen Kindergrundsicherung auf die faule Haut legen.

Kinderreich mit schlecht bezahlten Jobs

Erkenntnisse aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigen aber, dass der Bezug von Bürgergeld, auch von aufstockendem Bürgergeld, unter Migrantenfamilien auch deshalb öfter zu finden ist, weil die Eltern schlecht bezahlte Jobs haben und mehrere Kinder im Haushalt leben. Danach machen Eltern mit Mi­gra­tions­hin­ter­grund die schlecht bezahlten Jobs, die Deutsche nicht haben wollen. Und sie ziehen den Nachwuchs groß, der uns in Zukunft womöglich demografisch den Arsch rettet.

Am Dienstag verkündete Bundes­arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) eine überraschende Botschaft: Der Regelsatz beim Bürgergeld, der ja auch anteilig für die künftige Kindergrundsicherung gilt, steigt vom kommenden Jahr an um 12 Prozent. Anfang 2023 war der Regelsatz schon mal um 12 Prozent erhöht worden. Die Steigerungen sind Folgen von Gesetzesänderungen, die Inflationsentwicklungen bei der Bemessung der Regelsätze stärker berücksichtigen.

Auch die Union hatte diesen Gesetzesänderungen seinerzeit zugestimmt. Unions-Fraktionschef Friedrich Merz erklärte dennoch, es gebe durch die Erhöhung nun ein Problem mit dem „Lohnabstandsgebot“. Sein Vize Jens Spahn bezeichnete die Steigerung als „falsches Signal“. Der gesetzliche Mindestlohn ist prozentual nicht im gleichen Maße gestiegen, wie es nun mit dem Bürgergeld geschieht.

Die Merz’sche Beschwörung des Lohnabstandsgebots ist nicht von vorneherein abzutun, Medien rechneten auch gleich vor: Lohnt sich Arbeiten überhaupt noch? Diese Frage liegt auf der Hand, aber auch sie bedient das Narrativ vom faulen Stützeempfänger. Erstens haben Arbeitende aufgrund der Anrechnungsmodalitäten in der Regel immer mehr Geld als Stütze­bezieher:innen. Mit der Erhöhung des Bürgergelds steigt auch die Zahl derer, die Anspruch auf eine staatliche Aufstockung haben.

Schlacht um die Narrative

Vor allem aber kann man die Höhe einer Grundsicherung, die Existenzgrundlage ist auch für gesundheitlich Angeschlagene, Alte, pflegende Angehörige, Eineltern­familien, nicht davon abhängig machen, wie die Entwicklung auf dem Lohnsektor ist. Es gibt voll Leistungsfähige, die sich mit einer Kombi aus Schwarzarbeit und Stütze dauerhaft einzurichten versuchen. Aber wegen dieser sehr kleinen Gruppe kann man nicht Hunderttausende von Bedürftigen in Geiselhaft nehmen und deren Existenzgrundlage beschneiden.

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger:innen ging massiv zurück, als die Wirtschaft besser lief und Kinderbetreuungsplätze entstanden. Wir wissen heute, dass die Rede vom „faulen Arbeitslosen“ in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit um die nuller Jahre herum eine toxische Erzählung war, um soziale Kürzungen zu rechtfertigen. Die Schlacht der Narrative beginnt jetzt erneut, wo es enger wird im Bundeshaushalt.

Wir müssen diese Erzählungen entgiften, um die Abgabenbereitschaft und damit die kollektiven Sozialsysteme zu erhalten. Niemand ist davor gefeit, in die vulnerable Gruppe der Hil­fe­emp­fän­ger:in­nen zu geraten.

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Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).

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