CDU wählt EU-Spitzenkandidatin: One-Woman-Show 2.0

Eine erneute Amtszeit von Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin scheint sicher. Dabei ist ihre Bilanz eigentlich durchwachsen.

Friedrich Merz flüstert Ursula von der Leyen etwas ins Ohr

Ursula von der Leyen wird von CDU-Chef Friedrich Merz am Montag bei einer Pressekonferenz in Berlin hofiert Foto: Liesa Johannssen/reuters

BRÜSSEL taz | Sie ist die mächtigste Frau in Brüssel. In ihrem gut abgeschirmten Büro in der 13. Etage des Berlaymont-Gebäudes, des Sitzes der EU-Kommission, entscheidet Ursula von der Leyen über das Schicksal von knapp 448 Millionen EU-Bürgern. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine vor zwei Jahren geht es nicht mehr nur um EU-Richtlinien und Subventionen, sondern um Krieg und Frieden.

Doch kein Wähler hat die 65-jährige CDU-Politikerin in dieses hohe Amt gebracht. Bei der Europawahl 2019 stand die damalige Bundesverteidigungsministerin nicht einmal auf dem Zettel. Die Staats- und Regierungschefs haben sie am EU-Parlament vorbei eingesetzt. Das so genannte Spitzenkandidaten-Verfahren, das den Wählern ein Mitspracherecht sichern sollte, wurde ausgehebelt.

Auch diesmal, bei der Europawahl im Juni, wird sich von der Leyen nicht dem Verdikt des Volkes stellen. Auf eine Kandidatur auf der Landesliste Niedersachsen hat sie schon im Herbst verzichtet. Nicht einmal in Deutschland wird man sie also wählen können, in den anderen 26 EU-Ländern sowieso nicht. Es gibt in der EU auch keine Regel, die Spitzenkandidaten für den Kommissionspräsidentensitz vorschreibt, bei den Europawahlen anzutreten.

Dennoch ist ihre zweite Amtszeit so gut wie sicher – denn hinter ihr stehen nicht nur die CDU und die konservative Europäische Volkspartei, die auch bei dieser Wahl die meisten Stimmen holen dürfte. Hinter ihr stehen auch Emmanuel Macron, Olaf Scholz und die meisten anderen EU-Chefs.

Von der Leyen, der Medienprofi

Die Wahl scheint gelaufen, bevor sie begonnen hat. Doch dies ist nicht das einzige Paradox der deutschen „Queen“, wie sie das Springer-Portal „Politico“ taufte. „Konservativ und modern, diszipliniert und unberechenbar, weltläufig und heimatverbunden“ – so widersprüchlich haben die Journalisten Peter Dausend und Elisabeth Niejahr sie schon beschrieben, als sie noch in Berlin Politik machte.

Seit ihrem Wechsel nach Brüssel hat sich daran nichts geändert. „VDL“ kündigt heute dies und morgen jenes an – doch sie tut immer nur das, was gerade opportun erscheint und für Schlagzeilen sorgt. Gleich nach ihrem Wechsel nach Brüssel heuerte sie die PR-Agentur Story Machine an, die ihr Aufmerksamkeit in den so­zia­len Medien sichert.

Bezahlt wurde die Firma, die vom früheren Bild-Chef Kai Diekmann gegründet wurde, angeblich aus eigener Tasche – mit einem „privaten“ Beratervertrag. Fortan wurden fleißig Videos mit von der Leyen als Hauptdarstellerin veröffentlicht.

Auf dem Höhepunkt der Coronakrise zeigte die approbierte Ärztin ihren Followern, wie man richtig die Hände wäscht. Die eigentlich zuständige EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides kam in dem Clip nicht vor. Auch später sollte sich von der Leyen immer wieder in den Vordergrund drängen und ihr „Team Europe“ in die zweite Reihe verbannen. Selbst Schwergewichte wie Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager und Frans Timmermans, bis vergangenen Sommer als Kommissionsvizepräsident fürs Klima zuständig, litten unter der „One-Woman-Show“.

Paradox wirkte auch die Entscheidung, sich in ihrem neuen Amt nicht etwa von erfahrenen Europapolitikern oder EU-Beamten beraten zu lassen, die das „Raumschiff Brüssel“ und seine Gesetze kennen – sondern von ihren Vertrauten Jens Flossdorf und Björn Seibert. Diese hatte von der Leyen schon in Hannover beziehungsweise Berlin beschäftigt. Flosdorff wurde zum Spindoktor für die Medien, Seibert zum Kabinettschef.

Von der Leyen fällt nur nach oben

Bei vielen Beobachtern kam dies nicht gut an. Von der Leyen arbeite in einem deutschen „Bunker“ schrieb Libération. Einmal kam es zum Eklat, weil die EU-Chefin wichtige Entscheidungen zuerst im deutschen Fernsehen und nicht im Kommis­sions-Pressesaal herausposaunt hatte. Folgen hatte das jedoch keine.

Auch größere Skandale sind folgenlos geblieben. Anfang 2021 veröffentlichte die New York Times eine Story, der zufolge von der Leyen einen Milliardendeal über Corona-Impfstoffe mit dem Chef des US-Pharmakonzerns Pfizer ausgehandelt haben soll – allein, per Kurznachricht auf ihrem Handy. Deutsche Beobachter fühlten sich an ihre alte Berliner Affäre um gelöschte SMS erinnert. Die EU-Kommission weigerte sich, die fraglichen Nachrichten herauszugeben.

Viele Politiker sind schon über kleinere Affären gestürzt. Doch von der Leyen fällt immer wieder nach oben

Viele Politiker sind schon über kleinere Affären gestürzt. Doch von der Leyen fällt immer wieder nach oben. Woran liegt das? Die EU-Chefin habe ihren Job gut gemacht und die EU durch alle Krisen geführt, heißt es in Brüssel. Tatsächlich kam es in den letzten fünf Jahren ziemlich dicke: Klimakrise, Corona, der Krieg in der Ukraine und die Asylkrise haben Europa erschüttert.

Durchwachsene Bilanz

Von der Leyen hat alles überstanden und den „Laden“ zusammengehalten. Doch ihre Bilanz ist durchwachsen, die meisten Probleme wurden bis heute nicht gelöst.

In der Klimakrise wurden zwar viele wichtige Gesetze iniitiert. Doch der „Green Deal“ steht infrage, seit Klimakommissar Timmermans zurück in die Niederlande gegangen ist und die soziale Komponente zusammengestrichen wurde. Der „Deal“ mit den Bürgern fehlt – umso eifriger bemüht sich Brüssel neuerdings um die Industrie.

Die Coronakrise hat von der Leyen verschlafen, mehrere Wochen drohte der EU der Kollaps. Sie hat sich dann zwar um Impfstoff für alle Europäer gekümmert – doch geliefert wurde später als anderswo. Zudem hat Brüssel zu viele und zu teure Vakzine bestellt – nun müssen Impfdosen im Milliardenwert vernichtet oder verschenkt werden.

Im Krieg in der Ukraine will von der Leyen mit ihrer „geopolitischen Kommission“ glänzen. Doch die Sanktionen gegen Russland, die ihr Kabinettschef Seibert zusammen mit den USA eingefädelt hat, haben sich als Flop erwiesen. Bei den versprochenen Munitionslieferungen ist die EU hoffnungslos in Verzug.

Auf ganzer Linie gescheitert ist Brüssel in der Asyl- und Flüchtlingspolitik. Unter von der Leyens Ägide kommen wieder fast so viele Asylbewerber nach Europa wie 2015/16 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, Deutschland ist wieder das Hauptziel. Auch die Zahl der toten Bootsflüchtlinge im Mittelmeer hat beschämende Ausmaße angenommen.

Der neue Asyl- und Flüchtlingspakt, der rechtzeitig vor der Europawahl fertiggestellt wurde, kommt zu spät, um den Trend zu wenden. Mit Grenzverfahren und Ab­schiebelagern wird die EU zur Festung. Derweil profitieren Rechtspopulisten, Nationalisten und Postfaschisten überall in Europa von der Krise.

Der Blick nach rechts

In Italien, Schweden, Finnland und zuletzt in den Niederlanden sind die Rechten mit „Das-Boot-ist-voll“-Kampagnen an die Regierung gekommen. Dass von der Leyen ausgerechnet mit der italienischen Postfaschistin Georgia Meloni nach Lösungen sucht, macht die Sache nicht besser: Es zeigt, wie weit die EU nach rechts gerückt ist.

Besserung ist nicht in Sicht. Neuerdings redet von der Leyen nicht nur Meloni oder EVP-Chef Manfred Weber nach dem Mund, der für die Europawahl im Trüben fischt und das Gespräch mit „moderaten“ Rechten sucht. Sie hat auch Zugeständnisse an die Bauern gemacht und ihre Umwelt- und Klimapolitik verwässert. Der „Green Deal“ wankt.

Die Staats- und Regierungschefs haben neue Prioritäten: Plötzlich stehen Protektionismus und Aufrüstung hoch im Kurs. Von der Leyen hat die Zeichen der Zeit erkannt und ihre Rhetorik neu ausgerichtet. Bei der Münchener Sicherheitskonferenz hat sie sogar vorgeschlagen, einen EU-Kommissar für Verteidigung zu schaffen.

Macron und Scholz werden es mit Wohlgefallen gehört haben. Von der Leyen ist ihren Wünschen gefolgt – wie so oft. In ihrer ersten Amtszeit hat sie sich als Europameisterin der schönen Worte und der großen Ankündigungen erwiesen und den Launen ihrer Chefs angepasst. Daran dürfte sich auch beim nächsten Mal nichts ändern.

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