DRK-Präsidentin über Pflegenotstand: „Viele Heime führen Wartelisten“

Die Pflege verschwinde aus der öffentlichen Wahrnehmung, sagt DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt. Das bedrohe auf lange Sicht den sozialen Frieden.

Eine Pflegekraft hält die Hand einer älteren Frau im Pflegeheim, die Gesichter sind nicht zu sehen

Wenig Personal trifft auf immer mehr Pflegebedürftige Foto: Keystone/Gaetan Bally

taz: Frau Hasselfeldt, Sie haben kürzlich viele Einrichtungen des Deutschen Roten Kreuzes besucht. Gibt es schon Heime, die geschlossen haben wegen des Fachkräftemangels?

Gerda Hasselfeldt: Ich kenne stationäre Einrichtungen, die Abteilungen geschlossen haben, weil die Fachkräfte fehlen, ein Heim zum Beispiel hat ein Stockwerk stillgelegt. Es gibt auch ambulante Dienste, die keine Kundinnen und Kunden mehr annehmen können oder schließen mussten, weil sie nicht genügend Personal haben. Viele Heime und ambulante Dienste führen Wartelisten.

Gleichzeitig sind auch die Eigenanteile, die Pflegebedürftige bei Inanspruchnahme der ambulanten Dienste und für den Heimaufenthalt zahlen müssen, erheblich gestiegen und liegen jetzt im Bundesdurchschnitt bei 2.500 Euro für einen Heimplatz.

Das ist richtig, und es gibt auch Angehörige und Pflegebedürftige, die von sich aus die Inanspruchnahme von Leistungen reduzieren, weil sie sich das nicht mehr leisten können. Das berichten auch unsere ambulanten Dienste.

Wie sieht diese Reduzierung konkret aus? Kommt dann der Pflegedienst seltener vorbei?

Das kann zum Beispiel so aussehen, dass der Pflegedienst dann nur noch einmal am Tag vorbeikommt und nicht zweimal. Dann wird bei der Körperpflege reduziert. Womöglich wird nur noch einmal am Tag die Inkontinenzvorlage gewechselt.

Gerda Hasselfeldt, 73, CSU, ist Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes und war von 1991 bis 1992 Bundes­gesundheitsministerin

In Heimen gibt es unter den Pflegekräften Diskussionen, ob duschen nur alle zwei Wochen reicht, weil das Personal knapp ist. In sozialen Netzwerken fragen Pflegekräfte, ob man im ambulanten Dienst Inkontinenzvorlagen zweifach übereinander legen sollte, wenn sie nicht so oft gewechselt werden können. Als Angehörige befürchtet man, dass die Pflegebedürftigen verwahrlosen könnten.

Vier von fünf Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt, in den meisten Fällen wohnen noch Angehörige mit im Haushalt. Die professionellen Kräfte werden das in Zukunft nicht alleine stemmen können. Da müssen die „An- und Zugehörigen“, wie wir das nennen, helfen. Dazu gehören Ehepartner, Kinder, Verwandte, Nachbarn, Freunde. Für diese Helfer braucht es Schulungen.

Die Frauen in den Familien können und wollen das aber nicht mehr so leisten wie früher. Die Frauen sollen heute Kinder betreuen und berufstätig sein. Die haben kaum noch Kapazitäten für die Pflege der Alten in der Familie.

Richtig, man kann die Frauen nicht allein heranziehen, die Männer beteiligen sich zu­sehends und müssen das auch.

Es gibt zunehmend Menschen, die alleine leben und deren Kinder weit weg wohnen. Deren Versorgung dürfte dann schwieriger werden.

Es kommt auf den Grad der Pflegebedürftigkeit an. Wer zu Hause noch mobil ist, der kann sich mit Diensten wie Essen auf Rädern behelfen oder auch ­Notruftasten nutzen, etwa im Falle von Stürzen. Wenn man aber alleinstehend ist und eine Demenz entwickelt, dann wird es schwierig mit der ambulanten Versorgung.

Weniger Plätze Der Spitzenverband der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung (GKV) beklagt einen Rückgang bei der Zahl der Plätze in Pflegeheimen. Gründe seien der Personalmangel und das dadurch gestiegene unternehmerische Risiko, sagte der stellvertretende GKV-Vorstandsvorsitzende Gernot Kiefer. Innerhalb eines Jahres stünden 2 Prozent weniger Plätze zur Verfügung.

Mehr Nachfrage Dabei steigt aufgrund der Demografie der Bedarf an Pflegeangeboten. Kiefer sagte: „Wir haben heute etwa 5 Millionen Pflegebedürftige, das wird in den nächsten Jahren hochgehen bis auf etwa 6 Millionen Menschen.

Mehr Insolvenzen Der Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) wies am Mittwoch in Berlin darauf hin, dass im zu Ende gehenden Jahr im Schnitt pro Tag zwei Pflegeeinrichtungen Insolvenz angemeldet oder geschlossen hätten. Bis Mitte Dezember 2023 verzeichnete der Arbeitgeberverband 783 Insolvenzen und Schließungen in der Altenpflege. „Jede Insolvenz bedeutet eine tiefe Verunsicherung für Pflegebedürftige, sowohl in ambulanter Betreuung als auch in Pflegeheimen“, sagte AGVP-Präsident Thomas Greiner. (epd)

Sie waren Bundesgesundheitsministerin, kurz bevor die Pflegeversicherung Mitte der 90er Jahre kam, und haben die Debatten davor hautnah mit­erlebt. Hat man damals schon abschätzen können, wie groß das Problem der Pflege werden würde?

In dieser Dimension war das nicht vorauszusehen. Wir haben zum einen die Zunahme der Pflegebedürftigen aufgrund der Demografie, darunter auch eine Zunahme der Demenz­erkrankten, weil die Menschen immer älter werden durch die Fortschritte in der Medizin. Auf der anderen Seite erleben wir den Fachkräftemangel, und das können wir durch Zuwanderung auch nur bedingt ausgleichen. Beides zusammen verschärft die Problematik.

Erleben wir in Zukunft wieder Zustände wie vor der Einführung der Pflegeversicherung, als die Pflegebedürftigkeit eine der größten Ängste war in den Familien?

Ich glaube nicht, dass wir diese Situation wieder bekommen. Wir haben zum Glück die Pflegeversicherung, und diese schafft einen gewissen sozialen Frieden. In den stationären Einrichtungen erhalten Menschen mit mehr oder weniger Geld die gleiche Pflege. Die Bewohner bekommen die gleichen Sätze von den Pflegekassen, und es werden auch im selben Heim die gleichen Eigenanteile fällig. Diese werden von den Sozial­ämtern übernommen, wenn das eigene Geld nicht reicht. Das sind Errungenschaften, die es so in keinem anderen Land gibt.

Die Frage ist, ob man sich nicht darauf einstellen muss, dass für die Pflege mehr eigenes Geld zu bezahlen ist, sofern man die Mittel hat.

Die Pflege ruhte immer auf drei Säulen: Das sind einmal die Beiträge zur Pflegeversicherung, dann die Eigenanteile der Pflegebedürftigen, dann die Steuergelder. Wir sind dafür, dass die medizinische Behandlungspflege in den Heimen künftig von der Krankenversicherung getragen wird. Zudem müssten die Länder die Investitionskosten der Heime übernehmen. Außerdem ist unser­ Vorschlag: Festschreiben der Eigenanteile als Sockel und ­damit planbar für die Menschen. Der darüber hinausgehende Betrag soll von der Pflegeversicherung getragen werden.

Im Moment sieht es nicht so aus, als würden mehr Steuergelder für die Pflege lockergemacht. Es gibt andere Baustellen für die öffentlichen Haushalte.

Wir haben derzeit viele Krisen, da verschwindet die Pflege leider aus der öffentlichen Wahrnehmung. Die Pflegebedürftigkeit erscheint dann als Privatrisiko, von dem jeder hofft, dass er oder sie davon verschont bleibt. Die Pflegeversicherung aber ist auf Solidarität aufgebaut. Das müssen wir unbedingt erhalten, erst recht angesichts der künftigen Herausforderungen.

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