Dadaismus im Alltag: Absurd hilfreiche Information

Unser Sohn Willi nutzt einen Sprechcomputer, mit dem er vor allem dadaistische Lyrik deklamiert. Ähnlich funktionieren Werbung und Online-Bewertungen.

Auf einem Smartphone in der Ebay-App werden negative Bewertungen eines Verkäufers angezeigt.

Mitunter Perlen sprachlicher Dekonstruktion: Bewertungen auf Online-Plattformen Foto: dpa | Monika Skolimowska

Unser Sohn Willi spricht nur wenig. Sein verständlicher Wortschatz besteht aus fünf bis zehn Wörtern, die über die Jahre variieren und deren Auswahl skurril anmutet. Zurzeit gehören „Auge“, „Stau“ und „Afrika“ in diese Sammlung. Die stabilsten Wörter sind seit Jahren „Auto“, „Oma“ und „Opa“. Eben dieser Opa hat übrigens die Theorie, dass sein Enkel sehr wohl sprechen könnte, es aber nicht tut, da er dann ein deutlich anstrengenderes Leben hätte.

Gegen diese Theorie spricht, dass Willi grundsätzlich nicht gut Dinge verheimlichen kann. Wenn ich ihn aus den Augen lasse, geht er umgehend in der Küche auf Nahrungssuche und kommentiert dabei alles, was ihm in die Hände gerät lauthals mit einem begeisterten „Ahhh“ oder einem angewiderten „Iiii“ und verrät sich damit immer sofort selbst.

Willi besitzt auch einen Sprechcomputer, den wir „Talker“ nennen: ein Tablet, auf dem er Symbole antippt, die das Gerät dann spricht. Er hat darauf mehrere tausend Wörter zur Verfügung. Dass er einen großen Teil davon kennt, ihn ohne besondere Aufforderung aber nicht benutzt, spricht wiederum für Opas Theorie.

Aus Willis Sicht ist mit dem schönen Wort „Käsebrot“ und einem breiten Grinsen im Gesicht alles gesagt. Nur wenn der Wunsch zu lange unerfüllt bleibt, tut er seinen Mitmenschen den Gefallen, noch die Worte „essen“ oder „bitte“ hinzuzufügen. Ansonsten deklamiert er mit dem Sprechcomputer hauptsächlich dadaistische Lyrik. Zurzeit verwendet er in seinen Werken vielfach die Worte „pupsen“, „Adam“ (sein Freund) und „Busch“. Lange waren „Wellensittich“, „Obstsalat“ und „erschrocken“ seine beliebtesten Sprachelemente.

Auf Dauer können Willis Gedichte recht anstrengend sein, aber so ist das halt mit dem Dekonstruktivismus

Viele halten Willis Äußerungen für Unsinn. Ich persönlich schätze aber Nonsens – außer von meinem Mann ­– und interpretiere es als absurde Kunst. Zugegeben, auf Dauer können Willis Gedichte recht anstrengend sein, aber so ist das halt mit dem Dekonstruktivismus.

Ich empfehle daher, auch Werbung, Kleinanzeigen oder Online-Bewertungen als potentielle, surrealistische Kleinode zu betrachten. Über den Slogan „Zehn Jahre jünger aussehen: Der Kissenbezug für Frauen ab 50“ habe ich wirklich sehr gelacht. Auch eine Kundenrezension (zwei Sterne) gefiel mir sehr, die den Wortlaut „Keine Ahnung, wie das ist, hab’s noch nicht ausgepackt“ hatte – dazu die Angabe: „16 Personen fanden diese Informationen hilfreich“.

Toll auch die Kleinanzeige, die neben Titel und Foto lediglich aus den vier Worten „Es ist noch da“ bestand. Ich wette allerdings, dass die Verkäuferin trotzdem „Ist es noch da?“-Nachrichten bekommen hat. Lustig sind auch Menschen, die eine Sehenswürdigkeit mit nur einem Stern abstrafen, weil das Wetter „kacke“ war. Dagegen scheint mir sogar Willis Bewertungssystem mit den Kategorien „Ahhh“ oder Iiii“ als sinnvoller.

Manche Kommentatoren betreiben auch absichtlich Sinnverweigerung, was jedoch nicht weniger unterhaltsam ist. Eine Rezension zu einem an sich schon bizarren Produkt (ein Taschenmesser, 24 Zentimeter breit, 1.335 Gramm schwer, 141 Funktionen, über 1.000 Euro) begann mit den Worten: „Ich muss zugeben, zunächst war ich wirklich begeistert, als der Tieflader mit dem lang erwarteten Paket kam und ich freudig überrascht feststellte, dass der großen Schwenkkran, den ich angemietet hatte, um es ins Haus zu befördern, gar nicht notwendig gewesen wäre, da im Messer bereits einer enthalten ist.“

Eine andere endete mit: „Fazit: Für leichtere Tätigkeiten wie den Zusammenbau von Kernreaktoren, die Abwehr von Luft-Boden-Raketen oder das Kommunizieren mit Verstorbenen ist das Taschenmesser vielleicht geeignet, aber danach hört es auch schon auf.“

Da bekomme ich Lust mal eine Kundenrezension zu schreiben. Sie könnte zum Beispiel „Opa, pupsen, Wellensittich“ lauten. Ich bin gespannt, wie viele andere Nutzer diese Information hilfreich finden werden.

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Geboren 1973 in Hamburg. Seit sie Kinder hat schreibt die Bilderbuchillustratorin hauptsächlich Einkaufszettel und Kolumnen. Unter dem Titel „Die schwer mehrfach normale Familie“ erzählt sie in der taz von Ihrem Alltag mit einem behinderten und einem unbehinderten Kind. Im Verlag Freies Geistesleben erschienen von ihr die Kolumnensammlungen „Willis Welt“ und „Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg“. Ihr neuestes Buch ist das Kindersachbuch „Wie krank ist das denn?!“, toll auch für alle Erwachsenen, die gern mal von anderen ätzenden Krankheiten lesen möchten, als immer nur Corona. Birte Müller ist engagierte Netzpassivistin, darum erfahren Sie nur wenig mehr über sie auf ihrer veralteten Website: www.illuland.de

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