David Cronenbergs Romandebüt: Quellen der Lust

Filmregisseur David Cronenberg hat seinen ersten Roman geschrieben. Entstanden ist ein Werk, das sich zur Liebe von Dysfunktionen bekennt.

Cronenberg debütiert im Alter von 71 Jahren als Romanautor. Bild: ap

Als David Cronenbergs Spielfilm „Eine dunkle Begierde“ vor vier Jahren in die Kinos kam, waren viele Fans enttäuscht. In der dialoglastigen Dreiecksgeschichte vermissten sie, wofür der kanadische Regisseur berühmt war: Der Horror aus dem Körperinnern, die Mutationen der menschlichen Gestalt, die um bizarre Instrumente erweiterte Physis, all dies fehlte.

Zu Filmen wie „Dead Ringers“ (1986) oder „eXistenZ“ (1999) verhielt sich „Eine dunkle Begierde“ wie die Psychoanalyse zu den Symptomen, die sie zu bändigen versucht. So wie in der Redekur Ängste, Aggressionen und Panikzustände im Sprechen aufgefangen werden, so überführt „Eine dunkle Begierde“ das Formlose, Ungestalte, den body horror der früheren Filme in ein reifes, makellos inszeniertes period piece. Was die Fans seinerzeit übersahen, war, dass Cronenberg seinem zentralen Motiv treu blieb: Der Umstand, dass man nicht Herr im eigenen Haus, sondern sich selbst fremd und unheimlich ist, treibt die Fiktion an.

Nun hat David Cronenberg einen Roman geschrieben. Und in diesem späten Debüt – Cronenberg ist 71 Jahre alt – ist alles wieder so, wie man es aus den frühen Filmen kennt. In der Brust einer Figur wimmeln echte oder imaginäre Insekten; dieselbe Figur, eine französische Philosophin namens Célestine Arosteguy, leidet an einem Symptom, das sich Apotmenophilie nennt; das heißt, sie verspricht sich sexuelle Lust von der Amputation eines Körperteils.

Eine andere Figur schneidet sich bei jeder Gelegenheit ins eigene Fleisch und isst kleine Brocken ihrer selbst, und dann gibt es noch diejenigen, die wie Rosanna Arquettes Figur in „Crash“ ihre Körper mit Geräten verschalten, sodass sie Einschränkungen nicht nur ausgleichen, sondern ihre Fähigkeiten erweitern.

Nebenstränge und Binnenerzählungen führen um die Welt

Im Mittelpunkt von „Verzehrt“ stehen Naomi und Nathan. Beide arbeiten als Journalisten, Nathan an einer Geschichte über einen ungarischen Chirurgen, die ihn wiederum zu einem kanadischen Venerologen führt, Naomi konzentriert sich auf die Story der französischen Philosophen. Aristide Arosteguy steht im Verdacht, seine Frau getötet, zerstückelt und verspeist zu haben. Von der Leiche fehlt so gut wie jede Spur; nur Fotos des entstellten Körpers zirkulieren im Netz.

Beim Lesen geht es einem so wie Naomi bei ihren Recherchen, man fragt sich unablässig, ob man dem Augenschein trauen kann, den Berichten der Haushälterin, der knapp angebundenen Hausärztin, dem um Ausflüchte bemühten Polizeipräfekten. Weitere Recherchen führen Naomi von Paris nach Tokio und Nathan von Budapest nach Toronto.

Nur einmal begegnen sie sich persönlich, am Flughafen von Amsterdam; dafür erfährt man nach und nach, dass die Fälle, die sie verfolgen, Schnittstellen aufweisen. Nebenstränge und Binnenerzählungen führen an Orte wie Cannes und nach Pjöngjang; in Cannes lässt Cronenberg eine Jurysitzung des Filmfestivals auf wunderbare Weise entgleisen, und wenn er nach Nordkorea schaut, dann erscheint Pjöngjang zunächst wie die letzte verbleibende Antithese zur durchglobalisierten Gegenwart. Aber wer weiß, vielleicht täuscht man sich auch mit diesem Gedanken.

Dysfunktionen als Antrieb

Am Anfang gerät das Nebeneinander der Stränge ein wenig schematisch. Doch je weiter der Roman voranschreitet, umso waghalsigere Wendungen nimmt er, umso verblüffender wird das Zusammenspiel von Viszeralität und Virtualität, umso hinreißender geraten die Abschweifungen. Etwa die, in der eine Nebenfigur versucht, mit einem 3-D-Drucker den Stil des Cinéma vérité zu adaptieren, oder die, in denen die Protagonisten den Begriff des eingebetteten Journalismus wörtlich nehmen, da sie mit denen, über die sie schreiben, das Bett teilen, was wiederum ganz eigene Reflexionen über die Spielarten des New Journalism mit sich bringt. Tom Wolfes Vorstellung vom saturation reporting, von detailgesättigten Berichten, und der kannibalistische Akt, den Arosteguy an seiner Frau verübt haben soll, gehen eine irre Paarung ein.

Das Großartige an dem Roman ist, dass er Dysfunktionen und Symptome eben nicht nur als Anlass für Leid begreift, sondern darin auch Antrieb, Motor und Quelle der Lust sieht. Der Autor umarmt die körperlichen und seelischen Nöte der Figuren auf eine Weise, dass sie ungeahnte Produktivkräfte freisetzen.

David Cronenberg: „Verzehrt“. Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. Fischer, Frankfurt a. M. 2014, 397 Seiten, 22,99 Euro

An einer Stelle räsoniert Arosteguy darüber, wie eine erfüllte Sexualität trotz körperlicher Einschränkungen aussehen könnte, und es liest sich wie eine Poetologie zu Cronenbergs Oeuvre: „Der Schlüssel schien ein ausgeprägter Erfindungsgeist zu sein, durchsetzt mit einem noch ausgeprägteren Sinn für Humor und der Bereitschaft, sich nicht für die notwendige, manchmal groteske Akrobatik zu schämen.“

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