Debatte Fall Oury Jalloh: Wer wusste wann was?

Rund um den Fall Oury Jalloh hat so ziemlich jeder geschwiegen. Ein Skandal, der Behörden und ihre Kontrollinstanzen betrifft.

Ein Dummy liegt auf einer Matratze in einem Raum

Den Brandversuch vom August 2016 (hier im Bild) hätte man ohne Weiteres schon 2005 durchführen können Foto: dpa

Die Liste der Dinge, die am Fall Oury Jalloh haarsträubend sind, ist lang. Am beunruhigendsten aber ist die Frage, wie viele Menschen in staatlichen Institutionen offensichtlich daran beteiligt waren, die Mordermittlungen zu verhindern.

Bei der Ingewahrsamnahme Jallohs in Stadtpark von Dessau, an jenem Morgen des 6. Januar 2005, waren genau zwei Beamte dabei.

In den folgenden Stunden eskalierte die Situation. Dann hatten schon mindestens ein halbes Dutzend ihrer Kollegen auf die eine oder andere Art mit dem Fall zu tun. Keiner weiß, was genau sie mitbekommen haben. Was man aber weiß: Einige von ihnen haben im ersten Verfahren vor Gericht ausgesagt und dort nach Meinung des Richters derart gelogen, dass er ihnen androhte, „einen nach dem anderen immer wieder vorzuladen, bis einer von Ihnen umfällt“ oder sie „ans Kreuz zu nageln“.

Es nützte nichts. Am Ende konnte der Richter niemandem etwas nachweisen. Er schloss seine Begründung für den Freispruch der angeklagten Polizisten mit den Worten: „Ich habe keinen Bock mehr, zu dieser Scheiße noch irgendwas zu sagen.“ Das war im Jahr 2008.

Gelöschte Protokolle und Erinnerungslücken

Nachdem das Feuer in Jallohs Zelle ausgebrochen war, wuchs die Zahl der Beamten, die mit dem Fall zu tun hatten, immer weiter: Ermittler des LKA untersuchten den Tatort. Beamte nahmen – wie vorgeschrieben – die Durchsuchung des Tatorts auf Video auf. Später waren diese Aufnahmen nicht mehr auffindbar. Es dürften Beamte gewesen sein, die erst nach Tagen das angebliche Tatwerkzeug – die verschmorten Reste eines Feuerzeugs – in die Zelle gelegt haben, denn bei der ersten Durchsuchung des fast völlig leeren Raumes wurde es nicht gefunden.

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Niemand kann einfach von außen in eine ausgebrannte und abgesperrte Zelle im Keller eines Polizeireviers marschieren. Und so ging es weiter: gelöschte Dienstprotokolle, Erinnerungslücken, Widersprüchlichkeiten.

Zwei Staatsanwaltschaften, Dessau und Halle, waren an den Ermittlungen beteiligt. Zwei Landgerichte, Dessau und Magdeburg, verhandelten in der Sache, dazu der Bundesgerichtshof. Das Justizministerium des Landes Sachsen-Anhalt hat sich die ganze Sache über zwölf Jahre lang angesehen, ebenso wie Abgeordnete, die die Justiz kontrollieren sollen. Und schließlich hat offenbar auch der Generalbundesanwalt in der Sache abgewiegelt.

Keiner kann sagen, wer was wann wusste. Doch es wäre jederzeit möglich gewesen, all die Ungereimtheiten zu benennen – und sei es in anonymen Hinweisen etwa gegenüber Aufsichtsbehörden, Abgeordneten oder Medien. Doch über all diese Jahre hat niemand von behördlicher Seite es für nötig gehalten, offen auszusprechen, dass es möglich, wenn nicht wahrscheinlich ist, dass Jalloh angezündet wurde. Die Gerichtsprozesse förderten dafür immer mehr Indizien zutage. Und trotzdem hielten sämtliche Behörden – wie auch ihre Kontroll­instanzen – stur an der Annahme fest, dass Jalloh sich selbst verbrannt habe.

Aufklärung verlangen

Das, was jetzt durchsickert, hätte die Staatsanwaltschaft Dessau schon Monate nach dem Brand wissen können. Und sie hätte es der Öffentlichkeit mitteilen müssen. Den Brandversuch vom August 2016 hätte sie ohne Weiteres schon 2005 durchführen können.

Und selbst jetzt ist die Staatsanwaltschaft Halle nicht einmal bereit, auch nur offenzulegen, was die Sachverständigen über den Fall sagen. Gäbe es nicht zufällig eine Nebenklage der Familie – keiner würde es erfahren.

Es war eine kleine Gruppe von AktivistInnen, die während dieser ganzen Jahre als Einzige immer wieder auf das Offensichtliche hingewiesen und Aufklärung verlangt haben. Dafür haben sie einen hohen persönlichen Preis bezahlt.

Dass sie es geschafft haben, die Schweigemauer, die um den Tod Jallohs errichtet wurde, wenigstens ein Stück weit einzureißen, ist das Beruhigendste an der ganzen Sache.

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Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social

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