Debatte Wirtschaftsordnung: Den Markt gibt es nicht

Deutsche-Bank-Chef Anshu Jain und GDL-Boss Claus Weselsky verwenden denselben Trick: Sie reden von „Wettbewerb“, weil es ihnen nützt.

Manche Märkte funktionieren, andere nicht. Foto: dpa

Wir leben angeblich in einer „sozialen Marktwirtschaft“, doch das stimmt nicht. Echte Märkte sind selten und würden meist nicht funktionieren. Der „Markt“ ist ein ideologisches Konstrukt, das Interessen verschleiern soll.

In der vergangenen Woche waren wieder zwei Marktfans zu erleben. Der Ko-Chef der Deutschen Bank, Anshu Jain, glaubt irrtümlich, er würde auf „Finanzmärkten“ operieren, was dann Millionenboni für die „Leistungsträger“ im Investmentbanking rechtfertigen soll. Der Vorsitzende der Lokführergewerkschaft GDL, Claus Weselsky, ist wiederum der Meinung, dass gnadenlose Konkurrenz zwischen Gewerkschaften eine brillante Idee sei. Beide folgen dem Motto: Markt ist, was ich zum Markt erkläre.

Dieser Trick funktioniert nur, weil die Konzepte von „Markt“ und „Wettbewerb“ fast nie hinterfragt werden. Daher scheint ein kleiner Exkurs angebracht, der zunächst von Jain und Weselsky wegführt.

Die empirische Sozialforschung hat längst gezeigt, wie ineffizient es sein kann, in Marktkategorien zu denken. Ein berühmtes Beispiel nennt der Schweizer Ökonom Bruno Frey: In England gab es fürs Blutspenden lange kein Geld – doch dann wurden die Spender entlohnt. Man hoffte, dass noch mehr Menschen ihr Blut zur Verfügung stellen würden. Aber das Gegenteil geschah. Viele Spender zogen sich zurück, denn sie wollten Gutes tun, nicht ihr Blut verkaufen. Es erwies sich als kontraproduktiv, die Blutspende mit einem Preis zu versehen und einen „Markt“ zu simulieren.

Vollkommene Konkurrenz als Voraussetzung

Es ist zwar modisch, Menschen als „Marktteilnehmer“ zu titulieren, aber wie der amerikanische Anthropologe Alan Fiske herausgefunden hat, ist der „Markt“ nur eine von vier Formen, die das ökonomische Zusammenleben prägen. Die anderen drei Varianten sind das Teilen, das Tauschen von gegenseitigen Gefälligkeiten – und die hierarchische Dominanz.

Der Bereich des Marktes ist also klein, und selbst wenn Märkte existieren, sind sie keine echte „Marktwirtschaft“. Dieses Konzept setzt nämlich voraus, dass vollkommene Konkurrenz herrscht. Es soll viele Anbieter und viele Nachfrager geben, sodass durch den perfekten Wettbewerb ein fairer Preis entsteht.

Doch von diesem idealisierten Wettbewerb ist in der Realität nichts zu sehen. Stattdessen ist die bundesdeutsche Wirtschaft extrem konzentriert, wie an einer trockenen Zahl zu erkennen ist, die sich im Statistischen Jahrbuch findet: „Weniger als 1 Prozent der Unternehmen erwirtschafteten 2011 gut 66 Prozent aller Umsätze.“

Kapitalismus ja, Markt nein

Die Wirtschaft wird von wenigen Konzernen dominiert, die von den Rohstoffen bis zum Absatz die gesamte Wertschöpfungskette kontrollieren. Wir leben nicht in einer Marktwirtschaft, sondern im Kapitalismus, der als Oligopol organisiert ist. Dies ist keine deutsche Besonderheit, sondern in allen Industrieländern vorzufinden. Und da wenige Konzerne so mächtig sind, muss es einen starken Staat geben, der als Kontrollinstanz fungiert – was mit „Markt“ ebenfalls nichts zu tun hat.

Doch obwohl die Marktwirtschaft eine Fiktion ist, vermehren sich die vermeintlichen „Märkte“ inflationär. In der landläufigen Vorstellung gibt es Gesundheitsmärkte, Transportmärkte, Energiemärkte, Bildungsmärkte, Wohnungsmärkte – und eben auch Finanz- und Arbeitsmärkte.

Um zunächst beim „Finanzmarkt“ zu bleiben, auf dem sich Jain zu Hause fühlt: Die Welt des Geldes kann niemals ein Markt sein. Die Theorie der „Marktwirtschaft“ fordert, wie schon dargestellt, dass sich der Preis durch den Wettbewerb ergibt. Der Preis für Kredite und Spareinlagen ist bekanntlich der Zins. Doch der Zins wird weitgehend vorgegeben – von der Europäischen Zentralbank.

Die Rolle der Zentralbanken ist kein Zufall, sondern zwingend: Jede einzelne Bank denkt nur betriebswirtschaftlich, daher kann man ihr nicht die volkswirtschaftliche Aufgabe überlassen, die Geldmenge zu bestimmen. Daraus folgt aber: Zwischen Banken kann es keinen echten Wettbewerb geben, wenn der Zins letztlich schon feststeht. Daher ist es nur konsequent, dass der deutsche Bankensektor von öffentlichen Sparkassen und Genossenschaftsbanken dominiert wird.

Die Investmentabteilung der Deutschen Bank hingegen ist weitgehend überflüssig, hat mit Markt nichts zu tun und ist als „Zockerbude“ richtig beschrieben. Die Spekulation mit Derivaten dient nur dazu, einige Investmentbanker zu bereichern – während die Allgemeinheit die Kosten tragen darf.

Lokführer wissen, wie es geht

Genauso bizarr ist der „Arbeitsmarkt“, auf dem sich Weselsky bewegt. Auch dort herrscht kein Wettbewerb, sondern Gewerkschaften sind Kartelle. Auf der Homepage der GDL ist dies schön nachzulesen: „97 Prozent aller 27.000 Lokomotivführer in Deutschland erhalten mittlerweile faire Löhne. Die GDL hat mit ihren standhaften Mitgliedern dafür gesorgt, dass Lohndumping in Eisenbahnverkehrsunternehmen fast überall der Vergangenheit angehört. Mit ihrem Flächentarifvertrag hat sie ein einheitliches, leistungsgerechtes Lohngefüge, vernünftige Qualifizierungsstandards und Arbeitszeitregeln erreicht.“

Übersetzt: Die GDL hat verhindert, dass die unterschiedlichen Bahngesellschaften die Lokführer gegeneinander ausspielen können, indem überall der gleiche Lohn gilt. Bravo!

Bleibt nur ein Widerspruch: Wenn die Lokführer überall das Gleiche verdienen sollen, dann ist es seltsam, dass Weselsky genau diese Regel bei den Zugbegleitern der Deutschen Bahn aushebeln will. Sie sollen unterschiedliche Gehälter erhalten – je nachdem, ob sie bei der GDL oder bei der EVG organisiert sind. Diese betriebsinterne Gewerkschaftskonkurrenz ist Weselsky so wichtig, dass er dafür schon neun Streiks angezettelt und einen Millionenschaden angerichtet hat.

Es mag ja sein, dass die Kommunikation zwischen GDL und EVG nicht immer glückt, dass Eitelkeiten, Machtstreben und Verletzungen hinderlich sind. Trotzdem müssen Gewerkschaften kooperieren. Es ist verantwortungslos von Weselsky, „Wettbewerb“ zu verlangen, wo kein Wettbewerb sein kann.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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