Dekadenz und Lustfeindlichkeit: Lasst den Leuten ihre Lust

Der Untergang großer Zivilisationen ist oft mit Verachtung gepaart. Für die, die genießen und sich nicht mäßigen – zum Beispiel sexuell.

Eine Frau liegt lasziv auf einem Stein mit wenig Tüll bedeckt ihr Oberkörper, über ihr ein schlanker junger Mann mit Blättergirlanden um die Hüfte und geschmücktem Haar, er preßt eine Traube aus über ihrem geöffneten Mund

Dekadent und ausschweifend: Gloria Swanson und Ted Shawn im Film „Don´t change your husband“ Foto: Everett Collection/ddp

Wahr oder falsch: Die Römer hatten viel Sex und fraßen viel, und dann gingen sie allesamt unter? Die Bilder von Gelagen und Orgien im späten römischen Reich stecken tief im kulturellen Bewusstsein.

Dabei sind solche Darstellungen meist erst viel später entstanden. Es ist nicht so, dass mächtige Römerinnen und Römer eine Einladung zum All-you-can-eat-Buffet mit Courtisane ausgeschlagen hätten, wenn es sich ergab. Aber die Feste waren wohl auch nicht übler als Yacht-Partys von CEOs oder Bordellwandertage bei Versicherungskonzernen im einundzwanzigsten Jahrhundert.

„Dekadente Bankette waren im Römischen Reich genauso wenig alltäglich wie heute“, lese ich in einem genussvollen Faktencheck im Wissenschaftsmagazin The Conversation. Der Altertumsforscher Christian-Georges Schwentzel empfiehlt, die Berichte antiker Autoren über die angebliche Verrohung der jeweils vorangegangenen Epoche nicht so ernst zu nehmen. Sie hätten „immer ein moralisches Ziel: die Verurteilung der ‚Ausschweifung‘ im Namen der Mäßigung und der Enthaltsamkeit“. Die Christianisierung des Römischen Reiches habe dies noch verstärkt.

Das interessiert mich erstens, weil ich mich immer ernsthaft gefragt habe, was denn so schlimm an Buffets und Orgien sein soll, solange man ansonsten nett ist. Und zweitens, weil ich bemerkte, dass die Idee von der „Dekadenz“ oft sex- und queerfeindlich gedreht wird. Auf unappetitliche Weise mischt sich da Herrschaftskritik mit Lustfeindlichkeit. Und die Angst vor dem Untergang der eigenen Zivilisation mischt sich mit Verachtung für die, die genießen, die sich nicht mäßigen – zum Beispiel sexuell.

Das Ausbeuten und Herrschen ist doch das Schlimme

Anderes Beispiel, es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Königin Marie-Antoinette je vorgeschlagen hat, das hungernde Volk möge „Kuchen essen“. Trotzdem erinnern wir sie vor allem als weltfremde Hedonistin, die ihren pedikürten Zeh in Schlagsahne tippt. Mir liegt nichts daran, Marie-Antoinette zu rehabilitieren. Aber es fasziniert mich, dass wir es nicht schlimm genug finden, wenn jemand Feudalherrscherin ist, sie muss auch dekadent gewesen sein.

Auch die Römer haben Schlimmeres getan, als geschmacklose Afterhours zu feiern. Vielleicht ist es schwierig, den Verlierer der Geschichte dafür zu hassen, dass er ausgebeutet, geherrscht und gemordet hat, wenn man selbst noch vorhat, auszubeuten, zu herrschen und zu morden. Dann doch lieber eine Sex-Schmierenkampagne.

Ich sage das, weil ich glaube, dass in der Krise Verlustängste auf queere und sexpositive Menschen projiziert werden. Irgendwo in der Idee von der römischen Dekadenz liegt der Samen für dieses gefährliche Vorurteil. Dabei ist es ganz einfach: Ausbeutung ist kacke, auch wenn man dabei zölibatär lebt und Diät macht. Lasst Leute Lust haben. Den Untergang des Abendlandes schaffen wir auch low cal.

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