Demografische Krise in Russland: Dann sollen sie doch mehr gebären

Demografieproblem? Darauf kennen Kreml und Kirche die Antwort: 20-jährige Frauen müssten eben das erste Kind bekommen, statt zu studieren.

Präsident Putin mit Kindern.

Präsident Putin mit Kindern der Jugendarmee am Tag der Einheit des Volkes am 4. November Foto: Gavriil Grigorov/Sputnik/Pool/ap

MOSKAU taz | „Seien wir doch mal ehrlich“, sagt die Familienministerin der russischen Region Baschkortostan, Lenara Iwanowa in die Kamera, „qualitativ hochwertige Kinder gibt es, wenn eine Frau sie mit 20 Jahren zur Welt bringt. Kinder, die später geboren werden, sind Ausschussware.“ Dem Moderator fällt in dem Augenblick nicht etwa das Mikro aus der Hand, er macht einfach beflissen weiter mit seinen Fragen.

Iwanowa meldet sich derweil wenige Tage nach ihrem Auftritt in der Youtube-Sendung „Aspekte – Baschkortostan“ wieder zu Wort, klagt über „zu viel erboste Kommentare“ wegen ihrer Aussagen. Sie habe sich doch lediglich „versprochen“, sagt sie.

Am Inhalt dieser Aussagen hält sie nach ihrer halbherzigen Entschuldigung jedoch weiterhin fest: Russlands Frauen sollen zu Frühgebärenden werden, der Staat müsse ihnen das mit allerlei Maßnahmen schmackhaft machen. Doch nicht etwa mit sozialer Versorgung, mit Maßnahmen, die eine gesicherte Zukunft garantieren statt Männer zu Kanonenfutter in einem Krieg zu machen, sondern mit etlichen Verboten.

Der Gesundheitsminister Michail Muraschko spricht von einer „festsitzenden verwerflichen Praxis“, dass eine Frau erst eine Ausbildung machen und eine finanzielle Basis schaffen solle, um dann ein Kind zu haben. Nein, sagt er, schon in der Schule müsse den Mädchen erklärt werden, dass sie erst gebären sollen und dann an eine Ausbildung denken könnten.

Die Rolle der Frau wird überall debattiert

Die Debatte ums Gebären, den Zeitpunkt des Kinderkriegens, der Abtreibungsverbote, letztlich um die Rolle der Frau in der Gesellschaft wird derzeit in jeder russischen Talkshow und auch im Kreml geführt.

Im ersten Halbjahr dieses Jahres sank die Geburtenrate im Vergleich zum vergangenen Jahr um 29 Prozent

Russlands Präsident Wladimir Putin beklagt seit jeher die Demografie im Land, um die es in der Tat schlecht steht. Im ersten Halbjahr dieses Jahres sank die Geburtenrate im Vergleich zum vergangenen Jahr um 29 Prozent. Russische Frauen bekommen im Durchschnitt 1,6 Kinder, in Deutschland liegt die Geburtenrate bei 1,4 Kindern pro Frau. Der russische Sozialfonds prognostizierte im Oktober, die Geburtenrate werde in diesem Jahr nochmals um 5,8 Prozent auf knapp eine Million Entbindungen sinken. Damit würde ein Wert wie in den frühen 1990ern erreicht, ein Wert so tief wie nie in den vergangenen Jahren.

Die Konservativen des Landes wie auch Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche wissen genau, woran das liege, und überbieten sich mit ihren Vorschlägen: Abtreibungen sollten verboten werden, junge Frauen noch vor Ausbildung oder Studium Kinder gebären – und sich endlich wieder ihrer „Gebärfunktion“ gewahr werden, wie es die Senatorin der Region Tscheljabinsk, Margarita Pawlowa, ausdrückte. Werde das erste Kind mit 20 geboren, könne eine Frau so auch unproblematisch bis zu fünf Kinder auf die Welt bringen. Wer sie versorgen soll und wovon, sagt Pawlowa nicht.

Keine Abtreibung nach Vergewaltigung

Selbst nach einer Vergewaltigung, erklärt der Priester Filipp Iljaschenko im russischen Staatsfernsehen, müsse ein Kind zur Welt gebracht werden. „Was kann denn das Kind für die Art seiner Zeugung?“ Der oberste Patriarch Kirill will die russische Bevölkerung gar „mit einem Zauberstab vermehren“: Bringe man Frauen von einer Abtreibung ab, würde die Bevölkerungsstatistik sofort steigen, behauptet er. Deshalb müsse ein landesweites Abtreibungsverbot her.

In zwei Regionen existiert ein solches bereits, in weiteren Regionen verzichten manche privaten Kliniken „freiwillig“ auf derartige Operationen. Ab kommendem Jahr soll zudem der Verkauf von Abtreibungsmedikamenten eingeschränkt werden. „Der Krieg ist der Grund für die sinkende Geburtenrate, wie auch Armut, Alkoholismus, Krankheiten“, sagt Aljona Popowa, die sich für Frauenrechte in Russland einsetzt. „Der Staat setzt auf Populismus, um von den wahren Problemen abzulenken, und hat deshalb das Thema Abtreibungen aus der Mottenkiste geholt.“

Eine „Epidemie der Abtreibungen“, von der die Konservativen des Landes sprechen, gibt es in der Tat nicht in Russland. Nach Angaben der staatlichen russischen Statistikbehörde fallen die Zahlen jährlich um 6 Prozent und sind in diesem Jahr so niedrig wie seit 1991 nicht mehr.

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