Deutschland und Bergkarabach: Zynisch und geschichtsvergessen

Die deutsche Bundesregierung nimmt Warnungen vor einem Genozid an Ar­menie­r:in­nen nicht ernst. Ein Skandal, der allerdings nicht verwundert.

Bundeskanzler Olaf Scholz, im Hintergrund ist von der Seite sein Sprecher Steffen Hebestreit zu sehen

Bundeskanzler Olaf Scholz und Regierungssprecher Steffen Hebestreit (rechts) Foto: Annegret Hilse/Reuters

Seit Dezember 2022 leben im südkaukasischen Bergkarabach/Arzach 120.000 Ar­me­nie­r:in­nen in Isolation. Vorsätzlich blockiert Aserbaidschan den Latschinkorridor, die einzige Straße, die Armenien und Bergkarabach verbindet. Die humanitäre Katastrophe nimmt ihren Lauf: Es gibt einen ersten Hungertoten, einen massiven Anstieg von Fehlgeburten und enorme medizinische Versorgungsengpässe.

Obwohl Jour­na­lis­t:in­nen keinen Zugang zum betroffenen Gebiet haben, dringen Informationen über die katastrophale Lage über soziale Medien nach außen. Zahlreiche internationale Menschenrechtsorganisationen, For­sche­r:in­nen sowie der frühere erste Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, warnen vor einem neuen Genozid.

Tatsächlich weckt die Situation bei Betroffenen dunkle Erinnerungen an den „Aghet“, den Genozid an armenischen Chris­t:in­nen 1915, dem etwa 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Schon damals nahm das Deutsche Kaiserreich diesen in Kauf, als es auf der Seite des osmanischen Reiches stand. Nicht zuletzt deshalb mutet die Reaktion der Bundesregierung, genau genommen des Regierungssprechers Steffen Hebestreit, zynisch und geschichtsvergessen an. Warnungen vor einem erneuten Genozid bezeichnete dieser während einer Bundespressekonferenz als „Kampfbegriff“ und „Propaganda“ und leitete seine Antwort mit einem arroganten „Na ja“ ein.

Ein Skandal, doch angesichts der zahlreichen Aserbaidschan-Connections von über zwei Dutzend Abgeordneten aus allen Parteien und der Bezeichnung des Energielieferanten Aserbaidschan als „verlässlicher Partner“ durch Olaf Scholz nicht überraschend. Dabei sollte man aus der Erfahrung mit Russland gelernt haben, dass günstiges Öl und Gas nicht höher wiegen dürfen als der Schutz von Menschenrechten. Bis 2022 betrieb man entgegen allen Warnungen aus Ostmitteleuropa und der russischen Opposition Handel mit Putins fossiler Autokratie – den gleichen Fehler begeht man heute erneut. Mit Sanktionen oder Ähnlichem gegen Ilham Alijews Diktatur wird vorerst nicht zu rechnen sein. Den Preis zahlen die Armenier:innen.

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Anastasia Tikhomirova ist freie Journalistin, Kulturwissenschaftlerin und Moderatorin. Sie ist Alumna des Marion-Gräfin-Dönhoff Stipendiums der Internationalen Journalistenprogramme 2021, welches sie bei der Novaya Gazeta in Moskau absolvierte. Das Medium Magazin wählte sie 2023 zu den top 30 bis 30 Journalist:innen des Landes. Außerdem macht sie ihren Master in Osteuropastudien und interdisziplinärer Antisemitismusforschung in Berlin.

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