„Die Jahre“ im Theater Osnabrück: Wenn das Erinnern politisch wird

Das Theater Osnabrück adaptiert die Autobiografie „Die Jahre“ der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux. Die Vorstellungen sind ständig ausverkauft.

Zwei Frauen sitzen an einem Tisch, eine dritte läuft auf allen vieren über den Tisch

Endlose französische Essenszeremonie: die drei Annie Ernaux-Darstellerinnen treffen sich zu Tisch Foto: Uwe Lewandowsky

Sie spielen, im Theater Osnabrück. Und das ist gut so. Ärgerlich nur, dass darüber geredet werden muss. Die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux hat den agitatorischen Aufruf „Strike Germany“ unterschrieben. Der will internationale Künst­le­r:in­­­nen dazu bewegen, deutsche Kulturinstitutionen zu boykottieren, weil sie mit „McCarthyistischen Maßnahmen“ beispielsweise Solidaritätsbekundungen für Palästina einschränken. Und weil sie von einem Staat finanziert würden, der mit der Anti-BDS-Resolution anti-palästinensischen Rassismus und Zensur befördert habe.

Der Terror der Hamas wird verschwiegen, die „Strike Germany“-Verantwortlichen bleiben anonym. Warum Ernaux all das unterstützt, dann aber selbst nicht boykottiert, also weiterhin Geld für Aufführungen ihrer Texte an deutschen Bühnen kassiert, ist bestenfalls inkonsequent, wenn nicht verlogen. So aber kommt Osnabrück in den Genuss einer Kurzfassung ihrer besonderen Autobiografie „Die Jahre“, die das private Erleben im Hallraum der Zeitgeschichte beziehungsreich verortet: von den 1940er-Jahren ihrer Kindheit bis ans Ende der Nullerjahre des neuen Jahrtausends.

Ernaux inszeniert sich mit ihren gesellschaftlichen Prägungen als Repräsentantin der Nachkriegsgeneration. Es wird lebendig, wie sie in der provinziellen Enge ihres proletarisch-bildungsfernen Elternhauses aufwächst; wie sie sich aus dem Milieu schamvoll in die libertäre Studienzeit entfernt; wie sie Lehrerin wird, heiratet, zwei Kinder bekommt und sich scheiden lässt; wie sie eine Künstlerinexistenz führt und schließlich mit dem Alter wie auch einer Krebserkrankung kämpft. Um zu zeigen, dass das Politische dabei privat wurde, gibt es parallel Beschreibungen vom „Hungerwinter 42! Nur Kälte und Steckrüben“, der Befreiung Frankreichs durch die US Army und wie dann das Wirtschaftswunder erblüht, die 68er-Bewegung das Denken verändert, aber trotzdem Konsumorientierung und Verspießerung im Einfamilienhaus folgen.

Fantasieanregend karg

All das geht, minutiös und durchaus selbstkritisch notiert, einher mit der Einübung eines zeittypischen Repertoires an Gewohnheiten, Regeln, Konventionen, Sprachfloskeln und „wie man sich bewegt, sich hinsetzt, lacht. Wie man auf der Straße jemandem etwas zuruft, wie man isst, wie man nach etwas greift.“ Solche soziologisch geschulten Blicke zurück können als Pano­ramen der Jahrzehnte und persönlichen Entwicklungswege mit großem Ensemble in historisch informierter Nostalgie auf die Bühne geschwelgt werden.

Oder „Die Jahre“ werden karg fantasieanregend von einem Darstellerinnentrio als spielerisches Erzähltheater serviert, wie jetzt in der Regie von Kathrin Mayr am Theater Osnabrück. Das Klickklack der verrinnenden Zeit tickt auf der von Gardinenwänden strukturierten Bühne. Dessen zentrales Objekt ist ein Tisch für die endlosen Essenszeremonien der Franzosen.

Kindlich der Zukunft entgegenfiebernd (Cora Kneisz) und bollerig lebensschlau räsonierend (Nientje C. Schwabe) kennzeichnen zwei Altersstufen von Ernaux. Dazwischen zu verorten ist Schauspielerin Vanessa Czapla mit einem anfangs verklemmtem Warten auf den ersten Kuss, bis es endlich diesem Gefühl der Dringlichkeit geschuldet ist, und doch so verlegen wie enttäuscht wahrgenommen wird, „dass man nach einem Klammerblues auf einem Feldbett lag und den Penis eines Mannes und Sperma im Mund hatte, nachdem einem im letzten Moment der Knaus-Ogino-Kalender eingefallen war und man die Schenkel zusammengepresst hatte.“

Hoffnungssuchend zwischen Angst und Ausbruchswünschen wird durch die kleinbürgerlich eingeengte Ernaux-Existenz getanzt, fürs Recht auf Abtreibung argumentiert und erkannt: „Simone de Beauvoir zu lesen, bestätigte nur, dass es Pech war, eine Gebärmutter zu haben.“ Beeindruckend mit welch liebevoller Präzision Czapla die widersprüchlichen und daher verunsichernden Gefühle der langwierigen Loslösung vom „typischen Frauengefühl“ einer „naturgegebenen Unterlegenheit“ gestaltet.

Annie Ernaux: „Die Jahre (Etwas von der Zeit retten)“: Mi, 21. 2., 19.30 Uhr, Theater Osnabrück, Emma-Theater (Restkarten); weitere Termine: 22. / 27. / 29. 2., 26. 3. (alle ausverkauft)

Die Akteurinnen agieren zumeist im Dialog als Ernaux-Dreierpack, tippen dabei aber auch diverse Rollen quer durch die Dekaden und Generationen an und gestalten sie prototypisch in ihren sozialen Rollen. Wie in der Vorlage wechseln sich die leise ironische Sachlichkeit des Heraufbeschwörens von Momenten, Musiken, Gerüchen, Gedanken und Gerichten ab mit grundsätzlichen Überlegungen, etwa wie Erinnern überhaupt funktioniert, aber auch zu Männer- und Frauenrollen, Klassismus, Glück und dem Bedienen des kapitalistischen Systems, wobei stets die Frage mitschwingt: Wie soll man leben?

Der ganze Abend verdichtet in seinen Suchbewegungen ein Leben, skizziert Herkunft, Entfremdung, Self-Empowerment, Aufstieg, Stagnation und Emanzipation – sowie die zugrundeliegende Veränderung der individuellen Bedürfnisse und Interessen. Aus Ernaux’ Distanzierungsstil in der 3. Person und mit dem verallgemeinernden „man“ entwickelt der empathische Regieansatz wieder große Nähe zur Protagonistin, so dass die Bühnenfassung als kollektive Erzählung fürs Publikums-Wir funktioniert.

Auf die rasante Zeitreise im netten Weißt-du-noch-Gestus mit der chronologischen Und-dann-und-dann-Dramaturgie kann der Zuschauende selbstbesinnlich einsteigen, Überschneidungen mit der eigenen Geschichte entdecken und hinterfragen. Die Publikumsbegeisterung für das Angebot ist groß, stets schnell ausverkauft sind die Vorstellungen.

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