Die Suche nach einer Freundin beim IS: Nadia ist verschwunden

Sie habe „falsch gelebt“, schrieb sie. Dann schickte sie mir Videos von Wundertaten, die der IS vollbracht haben soll – und antwortete nicht mehr.

Bewaffnete Menschen werfen Schattenbilder auff eine Wand

Und plötzlich bist du der Feind Foto: Imago/Ralph Peters

Nadia wuchs im Ruhrgebiet auf. Sie hat marokkanische Wurzeln. Es war nicht ungewöhnlich, wenn sie mal vom rheinischen Dialekt ins hart klingende Marrokanisch-Arabische fiel. Neben Deutsch und Arabisch sprach Nadia auch fließendes Englisch und Französisch. Im Jahr 2013 begann sie in Bonn Politikwissenschaften zu studieren.

Sie verfolgte meine journalistische Arbeit, sie kontaktierte mich sogar. Ab und an schrieben wir uns und unterhielten uns nicht nur über politische Themen. Irgendwann entstand daraus ein regelmäßiger Kontakt, ja eine Freundschaft. Immer wieder bekundete sie, irgendwann in den diplomatischen Dienst gehen zu wollen oder auf irgendeine Art für Menschenrechte aktiv zu werden. Mit Nadias Fähigkeiten war das alles andere als unrealistisch. In einigen Jahren hätte sie sehr wohl in New York, Brüssel oder Straßburg tätig sein können.

Nadias Gerechtigkeitssinn war ausgeprägt. Immer wieder wollte sie auf die katastrophale Lage im Irak oder in Afghanistan aufmerksam machen. In vielen Fällen ging ihr das Ganze aber auch sehr nah. Berichte von Drohnenopfern in Afghanistan oder Angriffen auf Gaza wühlten sie auf.

Um sich Luft zu verschaffen, nahm Nadia deshalb immer wieder an Demonstrationen in ihrem Umkreis teil und war vor allem in muslimisch geprägten sowie linken Szenen aktiv.

Kein „Gefällt mir“ mehr

Im Laufe der Zeit verlor ich Nadia aus den Augen. Auf Facebook blieb ihr regelmäßiges „Gefällt mir“ aus. So belanglos diese virtuellen Aktivitäten auch sein mögen, so nimmt man durch sie doch andere wahr. Aber Nadia war von der Bildfläche verschwunden.

Monate später erfuhr ich, dass Nadia ein neues, anonymes Facebook-Profil hatte. Einem gemeinsamen Freund, der sich einst ebenfalls gut mit ihr verstand, fiel sie in einer Gruppe auf, in der vor allem junge Anhänger der sogenannten Salafistenszene aktiv waren. Wie sich herausstellte, hatte Nadia einen Veränderungsprozess durchgemacht.

„Mach dir keine Sorgen“, versicherte sie mir noch. Ich nahm diese Worte ernst. Das war ein Fehler

Sie trug jetzt einen schwarzen Chimar, jenen Schleier, der alles außer das Gesicht verdeckt. Dies kam nicht nur plötzlich, sondern war auch ein krasser Kontrast zu Nadias bisheriger Erscheinung: offene Haare, T-Shirt, Jeans.

Abgesehen davon hatte sich Nadias Freundeskreis verkleinert. Sie blieb nur noch mit einer Handvoll Menschen in Kontakt. Unser gemeinsamer Freund und ich gehörten nicht mehr dazu. Wir wurden, so schien es, hauptsächlich durch einige Chimar und Nikab tragende Mädchen ersetzt. Etwas verwundert konfrontierte ich sie damit und fragte, was denn plötzlich mit ihr los sei.

Ihre Antwort fiel karg aus. Sie meinte lediglich, dass sie lange „falsch gelebt“ habe und deshalb eine „Änderung“ nötig gewesen sei. Außerdem habe sie all die Ungerechtigkeit satt, vor allem in Syrien. Dann schickte sie mir ein paar Videos aus besagtem Land, die vermeintliche Wunder auf dem Schlachtfeld zeigen sollten – etwa Männer in weißen Gewändern, denen die Kugeln des Regimes nichts anhaben konnten. Es war plumpe Propaganda, die IS- oder Al-Nusra-Sympathisanten bis heute zahlreich verbreiten.

Keine Diskussionen

Das IS-Kalifat war zum damaligen Zeitpunkt noch nicht ausgerufen worden. Doch für das, was sich bald entwickeln sollte, zeigte Nadia schon damals Sympathie. Diskutieren wollte sie darüber jedoch nicht.

Ich war etwas besorgt, schrieb allerdings etwas spöttisch, dass sie von ihrem „Trip“ runterkommen solle. Naiverweise dachte ich tatsächlich, dass es sich lediglich um eine Phase handelte. „Mach dir keine Sorgen“, versicherte sie mir noch Anfang 2014. Ich nahm diese Worte ernst. Das war ein Fehler.

Vor wenigen Monaten erfuhren wir, dass Nadia nicht mehr im Ruhrgebiet sei, sondern sich nach Syrien abgesetzt habe. Dies versicherte uns eine ihrer einst besten Freundinnen. „Ich habe mit ihr abgeschlossen“, schrieb sie uns – und betonte, auch von uns nicht mehr belästigt werden zu wollen.

Wir waren schockiert – und fühlten uns schuldig. Nadia war den Rattenfängern des IS in die Falle gelaufen. Wir hätten es womöglich verhindern können.

Ich nenne hier bewusst nur Nadias Vornamen. Sie weiß schließlich nicht, dass ich über sie schreibe. Sie weiß vielleicht nicht einmal, dass ich nach ihr suchte – und noch immer suche.

„Bitte melde dich“

Ihre einstige Handynummer hatte ich noch. Ich rief an. Mehrmals. Doch niemand ging ran. Ich schrieb ihr bei Whatsapp. „Hallo, ich bin’s, Emran.“ Die Nachricht ging durch. Jemand las sie. Eine Antwort kam allerdings nicht. „Bitte melde dich.“ „Bitte antworte.“ Wieder wurden die Nachrichten gesehen. Danach gingen keine mehr durch. Wer weiß schon, bei wem sich ihr Handy zurzeit befindet?

Der gemeinsame Freund und ich kontaktierten weitere Personen aus ihrem Bekanntenkreis. Menschen, die in Bonn oder Köln linke Demonstrationen mitorganisiert hatten sowie ehemalige Kommilitonen aus der Universität. Einige wussten schlichtweg nichts über den Verbleib von Nadia und waren von ihrer Ausreise schockiert, andere wiederum wollten nichts mehr von ihr wissen.

Also suchten wir nach Mia. So nannte sie sich zumindest in sozialen Medien. Sie war eine Kommilitonin von Nadia. Jene, durch die sie sich wahrscheinlich radikalisiert hat. Wir durchforschten die Foren und Facebook-Gruppen von IS-Sympathisanten. Einige von ihnen, unter anderem auch in Syrien, wollten uns auch wirklich helfen. Natürlich nur bezogen auf unsere gefälschten Facebook-Profile, in denen wir uns als potenzielle IS-Rekruten oder Sympathisanten ausgaben.

„Ihre Männer wurden Märtyrer, sie hat vier Kinder“, schrieb etwa ein Mädchen, bis sie bemerkte, dass wir eine andere Nadia meinten. Momente wie diese führten uns immer wieder vor, mit was für einer abstrusen Szene wir es zu tun hatten – und ließen uns ahnen, was mit Nadia im schlimmsten Fall geschehen ist. Mittlerweile sind wir zu dem Schluss gekommen, dass das Mädchen namens Mia wahrscheinlich gemeinsam mit Nadia ausgewandert ist.

„Sind Sie Nadias Mutter?“

Eine Frage, die sich uns stets stellte, war jene, wie es wohl Nadias Eltern geht. Mit etwas Mühe konnten wir ihre Telefonnummer herausfinden. „Guten Tag, sind Sie Nadias Mutter?“, fragte unser gemeinsamer Freund. Erst Schweigen, dann ein kurzes Nuscheln und plötzlich schrie ihm eine wütende Frau ein „Nein!“ entgegen. Dann legte sie auf.

Seitdem fühlen wir uns machtlos. Wie all ihre Freundinnen stehen auch wir kurz davor, mit Nadia abzuschließen. Wir fühlen uns schrecklich bei diesem Gedanken. Es sind vor allem diese Was-wäre-wenn-Fragen, die unser Gewissen plagen. Was wäre, wenn ich Nadia damals nicht aus den Augen verloren und den Kontakt mit ihr gepflegt hätte? Und was wäre wohl, wenn ich ihr nicht geglaubt hätte, als sie meinte, ich solle mir keine Sorgen machen?

Nadia ist der IS-Propaganda auf den Leim gegangen. Andererseits ist sie dennoch ein erwachsener Mensch, der selbstständig Entscheidungen treffen kann. Sie hat sich entschlossen, sich einer Bande anzuschließen, die Menschen unterdrückt und ermordet. Gerade sie, die stets gegen Ungerechtigkeit war – vor allem, wenn sie Muslime traf – zog ins das Reich jener Extremisten, die in erster Linie Muslime unterdrücken.

Das war falsch und kurzsichtig. Womöglich bereut Nadia jedoch mittlerweile ihre Entscheidung. Womöglich vermisst sie ihre Familie und ihre Freunde, vergießt tagtäglich Tränen und sucht nach irgendeinem Ausweg. Vielleicht braucht sie gerade jetzt Menschen, die sie nicht aufgegeben haben. Menschen, die nach ihr suchen.

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