Die gefälschten „Hitler-Tagebücher“: Bertelsmann blieb im Hintergrund

Bis heute wird der „Stern“ für die Veröffentlichung der „Hitler-Tagebücher“ ausgelacht. Dabei ist das glorreiche Magazin nicht allein verantwortlich.

Gerd Heidemann präsentiert auf der Pressekonferenz des Hamburger Magazins "Stern" am 25. April 1983 die vermeintlichen Hitler-Tagebücher

Gerd Heidemann ­präsentierte 1983 die gefälschten Dokumente. Der Ankauf war eine Geheim­aktion Foto: Foto: Chris Pohlert/picture alliance

Der Publizist und Wissenschaftler Hersch Fischler warf im Jahr 1998 Bertelsmann vor, das Medienunternehmen beschönige und verdrehe seine Vergangenheit im Dritten Reich und rechne sich zu Unrecht zum Widerstand. Damals dauerte es Monate, bis der Konzern schließlich unter internationalem Druck Historiker mit einer Untersuchung beauftragte – welche die Vorwürfe Jahre später bestätigten.

So gesehen handelte Bertelsmann-Chef Thomas Rabe schnell, als der NDR diesen Februar berichtete, dass man die gefälschten „Hitler-Tagebücher“ erstmals umfassend ausgewertet habe und sich zeige, dass Hitler darin gezielt vom Massenmord an den Juden freigesprochen werden sollte.

Ein mieses Ergebnis für den Stern und auch für seinen Verlag Gruner + Jahr (G+J).

Dessen Zerschlagung hatte Rabe erst kurz davor verkündet. War ihm klar, dass der schwere Vorwurf auch Bertelsmann treffen könnte, der schon zur Zeit der „Hitler-Tagebücher“ Anteile von G+J besaß? Er verwies nach dem NDR-Bericht jedenfalls umgehend auf den Auftrag an das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ), das die Rolle Henri Nannens und des Stern seit der NS-Zeit bis 1983 prüfen soll: „Wir halten es für notwendig, den Umgang mit der Entdeckung, Bewertung und Veröffentlichung der gefälschten ‚Tagebücher‘ bei Gruner + Jahr und Bertelsmann wissenschaftlich untersuchen zu lassen.“

Bertelsmann hielt sich bedeckt

Seit Jahren schien der Betrug einzig und allein Sache des Stern gewesen zu sein. Vom „Stern-Skandal“ schrieb der Spiegel am 24. Februar, als der NDR alle 60 Bände erstmals online stellte. „Die Hitler-Tagebücher und der Stern-Skandal“, titelte auch der NDR. Der Stern selbst hatte schon 2018 „Die wahre Geschichte der gefälschten Hitler-Tagebücher“ in einem mehrteiligen Podcast aufgearbeitet. Ausgespart blieb dabei allerdings die Rolle von Bertelsmann.

Vielleicht weil bei der gerichtlichen Aufarbeitung der Affäre alle „richtigen“ Bertelsmänner aus der Gütersloher Konzernzentrale, wenn überhaupt, nur als Zeugen aufgetreten waren, während zwei der drei damaligen Stern-Chefredakteure als Schuldige gefeuert (und mit je mehr als 3 Millionen D-Mark abgefunden) wurden. Stern-Reporter Gerd Heidemann und Fälscher Konrad Kujau wanderten beide für mehrere Jahre ins Gefängnis.

Auch jetzt, 40 Jahre nach der Veröffentlichung, wird oft nicht wahrgenommen, dass es in Wahrheit gerade auch ein Bertelsmann-Skandal war. „Es läuft unter Stern-Skandal, aber die Rolle von Bertelsmann ist wesentlich“, sagt Michael Seufert, der im Auftrag des langjährigen Stern-Chefredakteurs Henri Nannen 1983 die Vorgänge aufklärte. Seufert war von 1970 bis 1997 beim Stern, zuletzt als stellvertretender Chefredakteur, und veröffentlichte 2008 das Buch „Der Skandal um die Hitler-Tagebücher“.

Die Verstrickung von G+J und Bertelsmann zeigt sich schon im Ankauf der Bücher. Den bewilligte der damalige G+J-Chef und spätere Bertelsmann-Vorstandsvorsitzende Manfred Fischer im Januar 1981 für 2 Millionen D-Mark. Es war eine Geheimoperation bei G+J. Die Chefredaktion des Stern erfuhr davon zunächst nichts. Denn es ging Fischer gar nicht in erster Linie um den Stern – er wollte vielmehr den Stoff für Bertelsmann sichern. Fischer witterte für den Konzern ein Riesengeschäft beim weltweiten Verkauf der Buchrechte. Der Stern war bloß für die Vermarktung vorgesehen.

Bertelsmann-Eigentümer Reinhard Mohn wurde von Fischer frühzeitig eingeweiht – auch in das mögliche finanzielle Risiko. Mohn war ebenso begeistert wie Fischer. Der stieg am 1. Juli 1981 zum Bertelsmann-Vorstandsvorsitzenden auf.

All das ist bei Seufert und anderen nachzulesen. Oft in Teilaspekten, die aber zusammen betrachtet werden sollten. Bei Robert Harris etwa, der mit „Selling Hitler“ schon 1985 ein spannend geschriebenes Sachbuch vorlegte, das die Rolle von Bertelsmann klar benennt.

Bewusste Geschichtsklitterung?

Aber warum wurde das Buch nie ins Deutsche übersetzt? So wie all seine Romane, die er später schrieb und damit zu einem der Bestsellergaranten von – genau – Bertelsmann avancierte? Er selbst ließ Anfragen, ob je eine Übersetzung geplant war und warum es nie dazu kam, unbeantwortet.

Felix Schmidt, einer der drei Chefredakteure des Stern, notierte zeitnah 1983 in seinem Tagebuch zur „Tagebuch“-Affäre: „Den Text für die erste Folge (…) lese ich vier oder fünf Mal. Den Satz, dass ‚die Biografie des Diktators und die Geschichte des Dritten Reiches in großen Teilen neu geschrieben werden muss‘, will ich ändern zu: ‚in Teilen umgeschrieben werden muss‘. Der Chef vom Dienst und der Serienchef raten ab. Schließlich habe Hitler, folgt man den ‚Tagebüchern‘, das Ausmaß der Judenvernichtung nicht gekannt. Ich gebe nach.“

Waren Reinhard Mohn, Manfred Fischer und andere Verantwortliche sich dieser Geschichtsklitterung auch bewusst? Ging es ihnen wirklich nur ums Geschäft? Oder war ihr Ziel auch, Hitler mit der Veröffentlichung zu entlasten? In seinem Buch „Hitlers Sternstunde“ zitiert der ehemalige stellvertretende Stern-Chefredakteur Manfred Bissinger eine Quelle. Laut der sagte Bertelsmann-Eigentümer Mohn zu Fischer: „Das ist das unglaublichste Manuskript, das je meinen Schreibtisch passiert hat. Das ist die Sensation des Jahrhunderts. Es ist unglaublich, wenn es stimmt.“

Hitler verharmlost

Robert Harris beschreibt ebenfalls Mohns und Fischers Begeisterung. Lässt sich klären, was sie tatsächlich vom Inhalt wussten und mit der Veröffentlichung beabsichtigten? Manche versuchen es.

Ende April 2023 trafen sich Historiker und Medienwissenschaftler auf Einladung von Bertelsmann und dem Institut für Zeitgeschichte (IfZ), um über die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit Henri Nannens und des Stern und den Umgang mit den Kujau-­Kladden zu debattieren. Bis der Bericht des Instituts für Zeitgeschichte vorliegt, werden zwar wohl noch Jahre vergehen.

Doch Magnus Brechtken, stellvertretender Direktor des IfZ, gab bereits bei der Tagung einen „Zwischenstand der Forschung“, den man in Gütersloh vermutlich beruhigt zur Kenntnis nimmt. Demnach gebe es keine Belege, dass die Verantwortlichen bei G+J und Bertelsmann das Ziel verfolgten, Hitler reinzuwaschen.

Auf Anfrage schreibt Brechtken: „Es gab bereits in den 80er Jahren eine Diskussion über die Inhalte. Es ist seitdem bekannt, dass Kujaus Texte Hitler verharmlosen (…) Konrad Kujau schrieb einen Hitler für seine Kunden. Das war sein Geschäftsmodell. Seine Kunden zahlten für einen verklärten Hitler.“

Erster Versuch, Stern zu übernehmen

Brechtken ist tief im Stoff. Er sichtete Dokumente in der Bertelsmann-Konzernzentrale in Gütersloh, besuchte Ex-Reporter Heidemann und dessen Archiv. Sein Fazit: Der Ankauf und die Veröffentlichung seien bei G+J und Bertelsmann „eine Managementfrage“ gewesen: „Das war nicht ideologisch motiviert. (…) Das war ein geschäftlicher Vorgang, aus Gütersloher Perspektive nicht mal besonders groß.“

Besonders groß waren die Folgen dagegen für den Stern – und damit für Gru­ner + Jahr. Als sich die 60 Kladden, für die G+J 9,3 Millionen D-Mark zahlte, als Fälschung herausstellten, versuchte Bertelsmann die Krise des Stern zu nutzen, um beim eigentlich progressiven Blatt konservative Chefredakteure zu etablieren.

Damit unternahm der ­Konzern damals so etwas wie den ersten Versuch, den Stern zu übernehmen und G+J zu schleifen. Die Redaktion wehrte sich vehement, konnte aber nur einen der beiden Chefredakteure verhindern. Die Folge war Peter Scholl-Latour.

Wie die Stern-Chefredakteure musste auch Bertelsmann-Chef Fischer 1983 gehen, allerdings nicht wegen der „Hitler-Tagebücher“. Bertelsmann-Eigner Mohn servierte ihn vielmehr, kurz bevor die Bombe platzte, wegen unterschiedlicher Auffassungen über die Konzernstrategie ab.

Wie eng das besondere Vertrauensverhältnis von Fischer und Stern-Reporter Heidemann blieb, zeigte sich noch mal bei seinem Abschied. Vier Monate bevor Fischer Ende März 1983 als Bertelsmann-Vorstand ausschied, informierte er Heide­mann vertraulich vorab. Fischer schrieb: „Ich hoffe, dass unsere guten gegenseitigen Kontakte, lieber Herr Heidemann, trotz dieses beruflichen Einschnitts nicht abreißen werden.“

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