Dreierlei Kunst in Kiel: Die volle Weiche des Lebens

„From texture to temptation“: Kiels Stadtgalerie würdigt das wuchtige Stoff-Werk von Silke Radenhausen und stellt ihr zwei Wesensverwandte zur Seite.

vier abstrake grafische Arbeiten, weiß auf weiß, hängen nebeneinander an einer Wand

Schwere und Leichtigkeit: Hannah Bohnen, „Telephone Drawing“ 7, 8, 5 und 6 (2023) Foto: Courtesy Evelyn Drewes Galerie, Hamburg

Morgens die Bettdecke, beispielsweise, nach dem Aufstehen. Wie sie da liegt, in Falten; aufgeworfen, wulstig, flüchtig, später werden wir sie wieder gehorsam glattstreichen und ihr eine feste Form in der Fläche geben. Und wenn nicht? Wenn alles bleibt, jede Ein- und Ausstülpung, jede leichte Erhebung wie Vertiefung, für immer – als sei alles aus Stein, aus Marmor?

„Weiche Skulpturen“, so nennt Hannah Bohnen ihre Arbeiten aus dünnen Schaumstoffplatten, die sie faltet, die sie leicht biegt – und dann vor Ort in Gips taucht. Der aushärtet, so dass eine feste Gestalt entsteht. Einige von ihnen sind derzeit in der Kieler Stadtgalerie zu sehen – Bohnens Beitrag zu einer Dreier-Ausstellung mit dem zusammenfassenden Titel: „From texture to temptation“, also von der Textur zur Versuchung.

Aufgefüllte Fräsungen

Hannah Bohnen, Jahrgang 1989, lernt noch als Kind und dann Jugendliche bis 2004 klassischen Tanz an der Deutschen Oper in Düsseldorf. Acht Jahre später nimmt sie ein Studium der freien Kunst und der Bildhauerei an der Kieler Muthesius-Hochschule auf. Für ihre überaus gestischen Einfräsungen in MDF-Platten, die sie anschließend mit Lack auffüllt, so dass das lose Zeichenhafte eine skulptural-gültige Struktur bekommt, erhält sie 2019 den renommierten Gottfried-Brockmann-Preis.

Ausstellung „From Texture To Temptation. A Journey into Surface Abstraction and Ornament“: bis 26. 11., Stadtgalerie Kiel

Bohnen geht danach weiter nach Berlin, setzt ihre Ausbildung fort als Meisterschülerin an der Kunsthochschule in Weißensee. Und ist nun sozusagen kurz zurück mit neuen Einblicken in ihr sich entwickelndes Werk, in denen Schwere und Leichtigkeit so gekonnt miteinander ringen.

Rückblick nach vorn

Im Zentrum der Ausstellung aber steht das Werk von Silke Radenhausen, Jahrgang 1937, die heute in einem Altenheim in Kiel lebt. Dabei ist man auch der eigenen Kunst-Geschichte auf der Spur: Schon 1997 hatte die Stadtgalerie dem Werk Radenhausens eine große Einzelausstellung gewidmet. Damals ein Statement, ein Projekt, ihr in der sonst eher von Epigonen bevölkerten Kunstwelt Schleswig-Holsteins zu Anerkennung zu verhelfen. Nun ist Zeit für einen Rückblick nach vorn: „Wir wollen Radenhausens konzeptionell spektakuläres Werk auch auf seine Aktualität hin überprüfen“, sagt Kurator Sönke Kniphals.

Geboren und aufgewachsen in Berlin, studiert Silke Radenhausen ab 1957 Kunst in Karlsruhe, Wien und zuletzt an der Hamburger HfBK. Sie zieht es in die Nähe von Kiel, wo sie künstlerisch, aber auch als Lehrerin arbeitet; mehr als 25 Jahre unterrichtet sie an einem Gymnasium in Kiel-Mettenhof. „Ich bin weder Plastikerin noch Malerin, sondern ich bewege mich dazwischen“, so hat sie sich als Künstlerin selbst einmal verortet. „Mein Interesse ist, die Leinwand auf die Füße zu stellen.“

Dass ihre Arbeiten 'sinnlich’ seien, ein schnell erteiltes Lob, hat sie zuweilen befremdet, oft auch belustigt zurückgelassen. Ihrem Hauptwerk etwa, ihrer Auseinandersetzung mit der 1856 erschienenen „Grammar of Ornament“ des englischen Architekten Owen Jones, der dafür zuvor jahrelang Südeuropa und die angrenzenden arabischen Länder bereiste, liegen hochkomplexe Bild-Analysen zugrunde. Sie verlangen eine betrachtende Vertiefung. Wobei man ehrlicherweise zugeben kann: Schreitet man in Ruhe durch die Ausstellung, muss man gelegentlich an sich halten, nicht einfach in die Stoffbilder zu greifen, um die aus der Fläche tretenden Textilien selbst wieder rein- und rauszustülpen.

„Die abstrakte Kunst, begleitet von einer Flut von Deutungen, galt uns jungen Künstlerinnen, die wir besonders unter der Ungerechtigkeit patriarchaler Bewertungsstrukturen litten, als Fluchtweg aus der (Nachkriegs-)Wirklichkeit“, so hat sie in einem Aufsatz ihren Werdegang formuliert. Lange bildet sie mit den Künstlerinnen Gudrun Wassermann, Elsbeth Arlt sowie der Autorin und Kunstwissenschaftlerin Ines Lindner eine Art losen Zirkel, getragen vom gemeinsamen Interesse an feministischer Kunsttheorie und -praxis.

Nähen nach Feierabend

Kniphals verweist auf die realen Arbeitsbedingungen, unter denen Radenhausens Werke entstanden: „Sie hat tagsüber unterrichtet, so ihr Geld verdient – und dann setzt sie sich anschließend zuhause an ihre Nähmaschine und näht diese wuchtigen Arbeiten, ohne Atelier, ohne jede Assistenz.“ Er zeigt auf die wandfüllenden Arbeiten zu Owen-Johns-Ornamenten-Entgegnung: „Wie eindrücklich und wie umfassend und auch umwerfend sie sind, merkt man erst, wenn man vor ihnen steht.“

Noch mal ganz anders in ihrer Fassbarkeit die Arbeiten der dritten Beteiligten: Keramikerin Lucia Bachner, die auf Hannah Bohnens Empfehlung hin eingeladen wurde. Bachner, Jahrgang 1993, auch sie hat an der Hamburger HfBK studiert, lebt und arbeitet mittlerweile in Berlin, bietet Einblicke in ihre Werk-Erkundungen. Um serielle Kachelarbeiten geht es, um Farbmuster.

Und wenn man beim Rundgang hin und wieder den Kopf hebt, schaut man auf schmale Regale, auf denen sich Kacheln reihen, die Abdrücke nach dem Brennen zeigen, Fotogrammen ähnlich, in denen fast geisterhaft etwas Geschwundenes zu erkennen bleibt, was vorher anwesend war.

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