Ein Streifzug durch Rigas Literaturszene: Großer Nachbar, großer Einfluss

40 Prozent der Bevölkerung Rigas ist russischstämmig. Doch wie funktioniert das Zusammenspiel von Russischem und Lettischem in Zeiten des Krieges?

Fernsehturm und Eisenbahnbrücke über den Daugava-Fluss in Riga,

Das höchste freistehende Bauwerk der EU, gebaut von der Sowjetunion: Rigas Fernsehturm Foto: Reinhold Schrank/imago

Riga liegt nicht am Meer. Nur fast. Ja, das ist bekannt, und Riga überhaupt durchaus beliebt bei ost- wie westeuropäischen Urlaubern. Riga ist von Berlin auch nur so weit weg wie Paris oder London, das lettische Riga war mal eine deutsche Hansestadt, und die Rigaer sagen, sie seien eigentlich eine deutsche Stadt. Trotzdem gehören Nachrichten aus dem politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt in hiesigen Medien nicht zum festen Berichtsgebiet.

Und das, obwohl seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine das Baltikum ein Hotspot ist – als potenzielles Ziel russischer Interessen, aber auch als Exilort für russische Journalistinnen, Schriftsteller und andere Verfolgte, die sich hier sichtlich wohl zu fühlen scheinen. Die Bevölkerung Rigas war aber auch schon vor diesem Krieg zu 40 Prozent russischstämmig und Russisch ist in der größten Stadt des Baltikums bis heute so präsent und normal wie das Lettische. Wie nimmt man als westeuropäische Ahnungslose eine solche Gemengelage wahr?

Nun, man stolpert schon bei der Inneneinrichtung Rigas ständig über die eigenen Vorurteile. Man sieht auf Möbel, die man automatisch für Zeugnisse stalinistischer Überwältigungsarchitektur hält, die sich aber als Spuren lettischer National- und Kulturgeschichte entpuppen. Beispielsweise die fast 43 Meter hohe Freiheitsstatue am Eingang zur mittelalterlichen Altstadt. Was aussieht wie ein sowjetischer Heldenverehrungs-Obelisk, stammt aus der Zeit, als Lettland zum ersten Mal unabhängig war (1918–1934) und also aus der Zeit, als man die Russen besiegt hatte.

Auf der anderen Seite der Stadt, und damit auf der anderen Seite des mächtigen Flusses Daugava, bestimmt ein riesiger Gebirgsgipfel die Silhouette. Der Gedanke drängt sich auf, ein Paradebeispiel spätsowjetischer Monumental­architektur zu sehen. Das Gebäude ist aber die neue Nationalbibliothek, entworfen vom weltberühmten amerikanisch-lettischen Architekten Gunnar Birkerts, und wurde erst 2014 eröffnet.

Konflikte? Welche Konflikte?

Natürlich gibt es mit dem 368,5 Meter hohen Fernsehturm, der wie eine Rakete auf einer Flussinsel der Daugava steht, und dem 108 Meter hohen Kulturpalast, in dem bis heute die Akademie der Wissenschaften ihren Sitz hat, auch noch tatsächlich sowjetische Architektur. Man muss allerdings lange nachfragen, bis jemand von Konflikten zwischen Letten und Russen in der Stadt erzählt. Im Großen und Ganzen komme man miteinander aus, man stand im Frühjahr gemeinsam auf Antikriegsdemos und gerade in der kosmopolitischen Kultur- und Literaturszene gebe es alltägliche Kooperationen, erzählt man der Besucherin.

Im Unterschied zur silberglänzenden Nationalbibliothek sind die Veranstaltungsorte der Literaturszene allerdings verfallende Industrieruinen am Rande der Stadt oder niedrige Hinterhofgebäude wie das Museum des Schriftstellerpaares Rainis (1865–1929) und Aspazija (1865–1943). Typisch, denkt man, sind doch Literaten eher zurückhaltende, nicht so gern im Scheinwerferlicht stehende, sondern vor der eigenen Schreibtischlampe sitzende Menschen.

Ein Vorurteil, mit dem die lettische Literaturagentur gekonnt spielt: Seit Jahren veröffentlicht sie unter dem Hashtag #iamintrovert kurze Comicstrips mit dem Titel „The Life of I“. I, also Ich, ist ein fiktiver lettischer Autor, der in jeder Alltagssituation Möglichkeiten sucht, nicht angesprochen zu werden, nicht antworten und niemanden treffen zu müssen. Wie man schon an dieser Kampagne merkt – die Comics wurden beispielsweise auf der Londoner Buchmesse in den Toiletten aufgehängt und wurden so zum Messegespräch Nummer eins – ist Rigas Literaturszene lebendig, offen und vielstimmig. Und vielleicht kriegt man hier differenziertere Antworten auf die Frage, wie das Zusammenleben mit den Russen zur Zeit so ist?

Der 1985 geborene Dichter Krišjānis Zeļģis beispielsweise verdient sein Geld als Craftbier-Brauer. Seine Gedichte (auf deutsch: „Wilde Tiere“, Parasitenpresse 2020) werden von Theatern und Musikkünstlern bearbeitet und sind so verstörend wie fein gewoben. Zeļģis erzählt, dass sein Gedichtband in der Ukraine auf Russisch veröffentlicht wurde und jetzt dort nicht mehr verkauft wird und davon, dass sich ukrainische Kollegen nun weigern, in lettischen Literaturmagazinen publiziert zu werden, in denen auch die Arbeiten russischsprachiger Kollegen publiziert werden. „Ich kann es verstehen“, sagt Zeļģis. „Was soll man auch sonst sagen? Aber so richtig gut finde ich es natürlich nicht.“ Und natürlich gebe es unter lettischen Literaten Debatten darüber, was man nun aus der Situation macht.

Die Rolle Deutschlands im Krieg

Anders als bei deutschen Intellektuellen verfallen Zeļģis und seine Kollegen und Kolleginnen aber nicht sofort in Erklärungs- und Belehrungsversuche. Lediglich wenn es um die Rolle Deutschlands geht, werden sie engagierter. „Es ist nicht überraschend, dass dieser Krieg begonnen wurde. Genauso wenig überraschend ist die deutsche Reaktion darauf. Wir wissen das seit 2014, als Putin die Krim annektierte“, sagt Zeļģis. In Lettland sei man sicher, im Fall eines russischen Angriffs auf sich alleine gestellt zu sein.

Semyon Khanin gibt ihm Recht. Er ist ein 1970 in Riga geborener russischstämmiger Dichter, Verleger, Performer und Teil des überaus populären Kollektivs Orbita, einer Gruppe russischstämmiger Künstler aus Riga. Eine ihrer Installationen ist die „Portable Church“: ein mehrere Meter hohes Gerät, das die Bedeutung vom Klang des Wortes trennen soll. „Der Klang ist das, was alle verbindet. Die Bedeutung von Gesagtem kann jeder anders interpretieren“, erläutert Khanin den Hintergrund ihrer tragbaren Kirche. „Als wir uns 1999 gründeten, wollten wir raus aus dem russischen Ghetto und Dinge machen, mit denen wir alle erreichen können, egal welcher Sprache oder Nationalität.“

Die lettische Regierung versucht seit Jahren, Russisch aus der Schule zu verbannen, zur Zeit mit noch mehr Rückenwind von der Bevölkerung

Denn ganz so normal wie man sich in der kosmopolitischen Rigaer Intellektuellen- und Künstlerszene gibt, ist das Nebeneinander von Russisch und Lettisch nicht. Die Regierung versucht beispielsweise seit Jahren, Russisch aus der Schule zu verbannen, zur Zeit mit noch mehr Rückenwind von der Bevölkerung. Dabei gehörte es für Menschen wie Semyon Khanin immer schon zu seinem normalen Alltag in Riga, zwischen Sprachen und Kulturen hin und her zu switchen.

Die russische Literatur ist für lettische Autoren immer noch die wichtigste Orientierung, erläutert die lettische Literaturkritikerin Anda Baklāne. Puschkin werde auch heute noch gelesen, obwohl es den Letten nicht an schlechter Erfahrung mit dem russischen Nachbarn mangele. Im Zentrum der lettischen Literatur nach 1991 stehen die Verbrechen der Russen zur Zeit der sowjetischen Besatzung, vor allem die Deportationen von 1941 und 1949. Romane wie „Muttermilch“ von der 1969 geborenen Nora Ikstena oder „Fünf Finger“ (beide 2019 im Klak Verlag auf deutsch erschienen) von der 1952 in Sibirien als Tochter deportierter Letten geborenen Māra Zālītes, sind Bestseller in Lettland.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Zu Sowjetzeiten durfte kein Buch auf Lettisch veröffentlicht werden, das nicht vorher auf Russisch erschienen war. Heute sei in den Literaturpreisen und Jurys die russische Literatur Lettlands kein Thema, erzählt die Kritikerin Baklāne. Umso interessanter, dass derzeit der bestverkaufte lettische Roman von einem russischen, nach Riga ausgewanderten Autoren stammt: „Morgen im freien Lettland“ vom 1983 geborenen Dimitrijes Savvins ist ein kontrafaktischer Roman, der davon erzählt, was hätte gewesen sein können, wenn Lettland 1990 nicht unabhängig geworden, sondern unter russischer Kontrolle geblieben wäre. Ein Buch, das auch den lettischen Nationalismus und Rassismus thematisiert.

Konflikte? Diese Konflikte!

Gänzlich abwesend ist die russische Propaganda in Lettland natürlich nicht. Die Vorsitzende der lettischen Autorenvereinigung Renata Punka spricht ein Problem an: „Es besteht die offene Frage, ob die russischen Verlage in Lettland dem Staat loyal sind, in dem sie ihre Geschäfte machen.“ In den russischen Buchhandlungen Lettlands würden Bücher verkauft, die den Hass auf das Baltikum schürten. Außerdem würden unter dem Banner der Copyleft-Bewegung Raubkopien lettischer Literatur in Umlauf gebracht, um den lettischen Verlagen das Geschäft zu vermasseln.

„Wir wissen, dass es russische Bücher auf dem lettischen Markt gibt, die als Propagandamaterial gelten könnten“, sagt der lettische Staatsminister für Kulturpolitik Uldis Zariņš dazu gegenüber der taz. „Aber in Lettland gibt es keine Zensur. Im Rahmen der demokratischen Regeln haben wir deswegen Buchhandlungen empfohlen, Bücher mit solchen Inhalten aufgrund der aktuellen geopolitischen Situation nicht mehr zu verkaufen.“

Juristisch sei es, anders als bei ethnischem, rassistischem oder religiösem Hass, nicht einfach möglich, Propagandawerke vom Verkauf auszuschließen, ohne dass die Meinungsfreiheit damit eingeschränkt würde. Im Fall der Raubkopien bestünde natürlich die Möglichkeit, die entsprechenden Seiten blockieren zu lassen. Allerdings sei das bei Seiten, die nicht aus Lettland kommen, äußerst schwierig.

Das lettisch-russische Orbita-Kollektiv hatte im Jahr 2020 ein erfolgreiches Theaterstück in Riga aufgeführt: „The Five Songs from Memory“, das die Frage „Erinnerst du dich an …?“ thematisiert. Es handelt von den Hinterhöfen und Seitenstraßen individueller Erinnerung und der Frage, ob es gut ist, an etwas erinnert zu werden, was man vergessen hatte – eine Frage, die man natürlich erst beantworten kann, wenn man sich erinnert hat. „Das Stück wird heute total politisch gelesen, was damals von uns überhaupt nicht intendiert war“, erzählt Semyon Khanin.

Ob man sich irgendwann in Riga daran erinnern wird, wie das war, als in Lettland Russisch und Lettisch gesprochen, gelesen und gelebt wurde? Das wird man wahrscheinlich erst beantworten können, wenn es so kommt. Oder anders.

Transparenzhinweis: Die Reise nach Riga wurde kofinanziert von der Plattform Latvian Literature.

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