Eine Reise zur israelischen Armee: Die Verteidigung der Bunker

Im Süden Israels heulen die Sirenen im Stundentakt. Was macht das Militär, um die Bevölkerung zu schützen? Und wie begründet es seinen Einsatz?

Raketenalarm im Juli 2014: Die Bewohner von Aschkelon suchen Schutz. Bild: reuters

SDEROT/ASCHKELON taz |15 Sekunden liegen zwischen Alarm und Einschuss. Der Gazastreifen ist gerade mal 800 Meter entfernt. Im Bunker der Stadtverwaltung von Sderot sitzt Bürgermeister Alon Davidi und spricht mit europäischen Journalisten. Über 1.000 tote Palästinenser, ein paar Dutzend tote Israelis – auf die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der israelischen Angriffe in Gaza antwortet Davidi erregt: „Was wollen Sie? Dass wir aufgeben und nach Europa kommen? Wir kommen gerne, nehmen Sie uns auf?“

Angestellte und Freiwillige wuseln durch die vier großen Büroräume unter Tage. Computer, Aktenschränke, Karten. In diesem Bunker verbringt die Stadtverwaltung die meiste Zeit. Nicht nur in den letzten Wochen, sondern seit 2005, als sich Israel vollständig aus dem Gazastreifen zurückzog. Seitdem wird die Stadt das ganze Jahr mit Raketen beschossen.

Im Hof des Polizeireviers zeigt Polizeipräsident Mike Rosenfeld die Sammlung der seit April 2001 hier gelandeten Raketen – etwa 12.000 waren es insgesamt. „Wenn die Sirene angeht, gehen Sie bitte sofort ins Gebäude und dann ins Treppenhaus.“ Wie sollen 20 Leute in 15 Sekunden durch eine kleine Tür ins Treppenhaus kommen?

„Seit drei Wochen schießt die Hamas die Raketen zwischen 8 und 9.30 Uhr und zwischen 16 und 17.30 Uhr“, sagt der Polizeipräsident. „Um diese Zeit gehen die Leute zur Arbeit oder kehren zurück, um diese Zeit werden Kinder zur Schule gebracht, gehen die Mütter einkaufen. Das Muster ist klar erkennbar. Das Ziel der Hamas ist die israelische Zivilbevölkerung.“

Einst zionistische Frontstadt

Sderot, im Westteil der Wüste Negev gelegen, ist heiß, stickig und stinkt. Nach der mediterranen Mischung einer armen Stadt: Urin, Teer, Müll. Einst war die Stadt mit 24.000 Einwohnern berühmt für ihr zionistisches Leitmotiv, die Wüste erblühen zu lassen. Viel zu sehen ist davon an diesem Sonntag nicht. Die Parks sind leer, die Gebäude hässlich, schnell hochgezogen nach der Gründung 1951, nach der Vertreibung der arabischen Einwohner und der völligen Zerstörung ihres Dorfes Nadschd. Vor allem kurdische und persische Juden siedelten sich anfangs hier an.

Bürgermeister Alon Davidi ist Kind persischer Flüchtlinge. Auf die Frage nach der Lösung für den Gazastreifen reagiert er noch gereizter: „Warum muss immer ich, warum muss immer Israel irgendwas tun? Was tun denn die anderen?“ Im Übrigen sei die Hamas gerade der Good Guy. Die irakische Isis, der islamische Dschihad, das sei die noch schlimmere Gefahr.

Ein paar Momente später drei schwere Detonationen. Es ist Waffenruhe. Aber die Hamas schießt weiter. Dieses Mal nicht auf Sderot. Der Kinderbunker, Hunderte Quadratmeter groß, mit Fußball-, Volleyball und Basketballfeld, bleibt leer. 500 Kinder passen hier hinein. Sderot wird auch die „Welthauptstadt der Bunker“ genannt.

"Ich bin die Front, die Sie beschützt"

„Die Hamas beschützt ihre eigene Bevölkerung nicht. Israel schon. Ich bin die Front der ganzen westlichen, zivilisierten Welt. Ich bin die Front, die Sie, Sie und Sie beschützt“, sagt Davidi und zeigt dabei auf die Journalisten aus Frankreich, Spanien und Deutschland.

Ein paar Kilometer weiter nördlich in Aschkelon liegt das südliche Hauptquartier der Homefront Security, eine Abteilung der Israel Defense Forces (IDF). Im Keller einer Mall ist ihre Zentrale. Der Oberkommandierende Itay, ein dicker, glatzköpfiger Enddreißiger, erklärt in flotter, unterhaltsamer Art, wie er seine Offiziere antreibt, die Bevölkerung vor herabfallenden Raketenteilen zu schützen. „Innerhalb von drei Stunden betonieren meine Soldaten das Loch auf dem Bürgersteig wieder zu.“

Itay wirkt wie die dicke Version von Louis de Funès. Stolz und ein wenig verschmitzt erläutert er die bestehenden Sicherheitssysteme der IDF, vom Raketenabwehrschild Iron Dome über die Sirene zur Handy-App „Red Alert“. „Studenten haben sie entwickelt. Anders als die Sirenen der IDF brummt die App bei jedem Raketenbeschuss. Die Leute sind gelangweilt, gucken gar nicht mehr hin, weil alle paar Minuten eine Pushbenachrichtigung von Red Alert kommt.“

Einige Journalisten lachen, auch über seine Gesichtsarbeit. „Uow Uow Uow“, sagt Itay, macht mit seinen Händen eine beschwichtigende Geste. „Das ist nicht lustig, wenn die Leute nicht mehr auf die Sirenen reagieren.“ So locker, freundlich und offen er redet, es geht hier nicht um eine Truppenübung. Es geht um Leben und Tod.

Sympathisch wie Louis de Funès

Und es geht um Angst. Die Angst, nicht ernst genommen zu werden. Die Angst, dass der Satz, den man in Israel und im Rest der Welt so oft hört, „Israel ist sicher“, nicht stimmen könnte. Dass etwas passieren könnte. Dass ein Zivilist getötet werden könnte. Und Itay weiß, dass hinter diesem Satz ein bis ins Alltagsleben verzweigter Militärapparat steht, der funktionieren und von der Bevölkerung akzeptiert werden muss. Und er weiß, dass diese Akzeptanz über ein Image hergestellt wird, das Image einer Armee, die alles für die Sicherheit ihrer Bürger tut und die dabei sympathisch ist, so sympathisch wie Louis de Funès.

Der Bus mit den europäischen Journalisten fährt auf der Fernstraße zwischen Aschkelon und Sderot. Im Radio kommt eine Raketenwarnung. Wir haben 30 Sekunden. Der Bus hält an, wir steigen aus. Es macht noch einmal Bumm. „Eins, zwei, drei vier“, zählt der Busfahrer, während er in den Himmel zeigt. Im glasklaren Blau sieht man vier weiße Wölkchen, die Reste der abgeschossenen Raketen. Zwei Hipsterpärchen in Strandkleidung, die ebenfalls angehalten haben, machen Handyfotos von den Wölkchen und steigen zurück ins Auto. Wir auch. Einige hundert Meter weiter nur steht eine Batterie des Iron Dome in einem schmutzigen Sandfeld. Von einem kleinen Zaun umgeben wirkt es wie ein schief aufgehängter Hühnerstall. Die jungen Hipster sind auch wieder da. Machen Selfies vor dem Iron Dome. Ohne das Ding hier hätten sie und wir die weißen Wölkchen nicht gesehen.

„Der Iron Dome hat eine Trefferquote von 90 Prozent“, erläutert Michael Herzog, Brigadegeneral a. D. Er begleitet die Journalistenreise, zu der die Organisation European Leadership Network eingeladen hat, damit man sich ein „Bild von den schwierigen Dynamiken“ in der Grenzregion machen könne. Er drängt sich nicht auf, hin und wieder korrigiert er eine falsche Zahl, ein falsches Datum. Beim Mittagessen erläutert er die Entwicklung der militärischen Abwehr der IDF. Stolz aber nicht triumphierend, bestimmt aber nicht herrisch. Auf die Frage, ob Israel Kriegsverbrechen begeht, antwortet er: „Dafür gibt es keine Anzeichen. Wenn es welche gibt, wird man das untersuchen.“ Und die Verhältnismäßigkeit?

Kostenabwägung

„Niemand will diese vielen Toten. Die IDF wägt die Kosten ab. Wie viel tote Zivilisten in Gaza müssen wir in Kauf nehmen, um die israelischen Zivilisten zu schützen? Das Ziel der IDF in diesem Krieg ist es nicht, die Hamas zu zerstören oder Gaza zu demilitarisieren. Wir sind die einzige Partei, die das könnte. Aber wir wollen Gaza nicht erobern. Das Ziel ist es, die 35 Tunnel zu zerstören, die die Hamas benutzt, um Tausende Kämpfer nach Israel zu schicken und dort Terroranschläge zu verüben. Die Tunneleingänge im Gaza liegen unter Moscheen, Krankenhäusern und Wohnhäusern. Das ist für jeden Militär eine äußerst komplizierte Angelegenheit.“

Ein paar Kilometer weiter Richtung Sderot steht der 28-jährige Politikstudent Alon auf einem Betonturm. Seine Arbeitsgeräte: ein Fernrohr, ein Laptop. Zusammen mit anderen Reservisten, die wie er Mitte 20 sind, beobachtet er die Gegend um Aschkelon. Weil es kein System gibt, das die herunterfallenden Raketenteile sichten kann, tun sie das hier mit bloßem Auge. Alon ist zum ersten Mal an der Front. Seine Gruppe darf eigentlich nicht mit uns sprechen, aber er lässt es zu. Ob er Angst hat? „Angenehm ist das hier nicht.“

Wir werden zu einer Getreidefabrik gefahren, wo uns der Betreiber in dritter Generation vorgestellt wird. Er war bei der israelischen Marine, ein tief gebräunter und kleiner Mann mit muskulösen Oberarmen. Er ist stolz darauf, dass sich die IDF um den Schutz dieser Region kümmert. „Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf“, flüstert er leise. „Aber die Palästinenser sind das nicht, die da auf uns feuern. Das kommt alles aus dem Iran und Syrien. Ich kenne die doch. Wir sind seit Jahrzehnten Geschäftspartner, Freunde. Es ist schlimm, nicht zu wissen, wie es ihnen jetzt geht.“

Dass die Hamas es nicht erlaubt hat, eine Getreidefabrik in Gaza von EU-Geldern bauen zu lassen, ist für ihn der Beweis, dass die Hamas ihre eigene Bevölkerung aushungern lässt. „Getreide ist das Grundnahrungsmittel Nummer eins. Wenn es kein Brot gibt, gibt es auch kein Leben.“

Mit bloßem Auge

Ein paar Kilometer weiter befindet sich das Hauptquartier der Kampfjeteinheit „Scorpions“. Es ist nicht einfach, einem Piloten gegenüberzustehen, der fast schüchtern seine Aufgabe erläutert und sich anschließend herzlich für den Besuch bedankt. Vielleicht ist er es, der in ein paar Minuten mit einem F16 in den Gazastreifen kommandiert wird, ein Ziel bombardiert, bei dem Hunderte Menschen sterben. „Wir machen alles, was man tun kann, um unschuldige Zivilisten zu schützen. Wir rufen die Bewohner des Hauses, das wir angreifen, vorher an, wir schicken ihnen SMS und werfen Flugblätter ab. Drei Minuten vorher schicken wir ein „knock on the roof“, eine kleine Bombe, die auf dem Dach des Hauses landet, aber nicht explodiert. Das ist das letzte Signal an die Bewohner, das Haus zu verlassen.“

Drei Minuten Zeit, das würde für fast alle reichen, um einen Bunker in einem Wohnhaus zu erreichen. Gäbe es einen Bunker. „Die Hamas hat den Zement, den wir ihnen geliefert haben, nicht für den Bau von Bunkern, Krankenhäusern oder einer Metro benutzt. Sie hat damit Tunnel gebaut, um uns zu ermorden“, sagt der Brigadegeneral. „Sie lassen uns keine andere Wahl.“ Ob Israel vor der militärichen Eskalation wirklich keine andere Wahl blieb, als sich in einen von der Hamas gewollten Krieg hineinziehen zu lassen, wird man von der IDF vorerst nicht erfahren.

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