Empfehlung für EU-Beitrittsverhandlungen: „Sieben Brücken“ für die Ukraine

Die EU-Kommission will aus politischen Gründen den Start von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine empfehlen – trotz offener vieler Fragen.

Eine Person kniet vor einer mit ukrainischen Fahnen bedeckten Flächen auf dem Boden

Ein Mann gedenkt den Gefallenen des Krieges auf dem Independence Square in Kiev Foto: Gleb Garanich/Reuters

BRÜSSEL taz | Die Spatzen pfeifen es in Brüssel von den Dächern: Am Mittwoch wird die EU-Kommission den Start von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau empfehlen. Knapp eineinhalb Jahre nach der Gewährung des Kandidatenstatus' werden die beiden Länder damit eine weitere wichtige Hürde auf dem Weg in die EU nehmen.

Die Ukraine habe „bereits deutlich über 90 Prozent des Wegs hinter sich“, erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach einem Besuch in Kyjiw am vergangenen Wochenende. Auch Moldau kann mit grünem Licht rechnen, sagen EU-Beamte in Brüssel. Die so genannten Fortschrittsberichte würden positiv ausfallen.

An der Begründung muss die EU-Kommission aber noch feilen. Zwar besteht kein Zweifel, dass die Empfehlung politisch motiviert ist. Auf einem Sondergipfel in Moldau und bei einem eigens einberufenen Außenministertreffen in Kyjiw wurde die geopolitische Bedeutung des Beitritts betont – die EU will Russland einen Riegel vorschieben.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock soll die Aufnahme in die EU bereits fest versprochen haben. „Diese Zusicherung“ habe er von Baerbock erhalten, sagte Kyjiws Chefdiplomat Dmytro Kuleba der Welt. Ratspräsident Charles Michel hat auch schon ein Datum genannt: Spätestens 2030 sollen die Ukraine und Moldau dem europäischen Club beitreten.

Wie werden Beitrittsfortschritte bemessen?

Unklar ist allerdings, wie die Fortschritte beider Länder bemessen werden. Nach den sogenannten Kopenhagener Kriterien, die die EU 1993 verkündet hat, müssen Anwärter nicht nur institutionelle Stabilität als Garantie für Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte aufweisen, sondern auch wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen.

Das lässt sich für die Ukraine nicht sagen – die EU-Kommission fordert sogar 50 Milliarden Finanzhilfe, um das Land finanziell über Wasser zu halten. Für Moldau hat die EU ihre Finanzspritze erst im Mai nahezu verdoppelt – auf 295 Millionen Euro. Mit den Hilfen soll Moldau seine Wirtschaft stabilisieren und Strukturreformen einleiten.

Auch Demokratie und Rechtsstaat lassen zu wünschen übrig, wie man sogar in Brüssel einräumt. Für die Ukraine hat die EU-Kommission daher eigens sieben spezielle Kriterien entwickelt, anhand derer sich Fortschritte messen lassen sollen. Im Juni waren davon aber erst zwei erfüllt, wie Erweiterungskommissar Oliver Varhelyi einräumte.

Die EU-Kommission muss nun die heikle Frage beantworten, wie es um die übrigen fünf Kriterien steht. Kann die Ukraine über die „sieben Brücken“ gehen, die ihr von der Leyen gebaut hat? Neben den schon abgehakten Zielen (Medienfreiheit und Justizreform) geht es vor allem um die Bekämpfung der Korruption, die Bändigung der Oligarchen und den Schutz der Minderheiten.

Ukraine überholt Balkanstaaten auf dem Weg nach Brüssel

Die Ukraine-Expertin der Grünen im Europaparlament, Viola von Cramon, hat keine Zweifel: „Die Justizreform, der Kampf gegen Korruption, die Pressereform sowie das Gesetz zu ethnischen Minderheiten sind gut vorangekommen.“

Zufrieden ist auch Michael Gahler, Außenpolitiker der konservativen EVP-Fraktion. Der CDU-Politiker vertraut dem Urteil seiner Parteifreundin von der Leyen.

Das letzte Wort hat jedoch nicht das Europaparlament, sondern der Rat, also die Vertretung der 27 Mitgliedstaaten. Sie müssen einstimmig zustimmen, damit die Beitrittsgespräche beginnen können. Dabei könnten sich nicht nur Ungarn und die Slowakei querstellen. Es gibt auch noch ein Glaubwürdigkeitsproblem: den Westbalkan.

Den Balkanländern wurde schon vor 20 Jahren der EU-Beitritt versprochen – doch sie sitzen immer noch im Wartesaal. Wenn nicht alles täuscht, darf sich nur Bosnien-Herzegowina Hoffnung machen. Alle anderen müssen wohl zusehen, wie sie von Osteuropa abgehängt werden.

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