Ende der Musikplattform Pitchfork: Eine 0.0 von 10.0-Situation

Pitchfork, eines der wichtigsten Musikmedien der Welt, wird vom Männermagazin „GQ“ geschluckt. Das Ende des Musikjournalismus ist es zum Glück nicht.

Katherine Paul spielt Gitarre, umhüllt von Bühnennebel

Musikerin Katherine Paul beim Pitchfork Music Festival 2023 in Chicago. Das Musikmedium Pitchfork wird von „GQ“ geschluckt Foto: Michael Casey/ap

Nur einmal, da fanden selbst die Nerds von Pitchfork, die zuvor zehn Jahre lang stoisch jedes noch so nischige Stück Rockmusik besprochen hatten, keine Worte mehr. Die australische Rockband Jet hatte 2006 ihr zweites Album „Shine On“ veröffentlicht und bei Pitchfork fand „Ray Suzuki“ (höchstwahrscheinlich ein Pseudonym) es so schlecht, dass neben der Wertung 0.0 von 10.0 statt einem Text nur ein Video von einem Affen zu sehen war, der sich selbst in den Mund pinkelt. Diese verzweifelte Geste des Unverständnisses zeigt, so komisch das klingt, warum Pitchfork zu einem der wichtigsten internationalen Musikmedien der letzten Jahrzehnte werden konnte: Grundsätzlich war in der Auseinandersetzung mit Musik alles möglich.

Jetzt soll Pitchfork für immer verstummen. Letzte Woche wurde publik, dass der Eigentümer-Verlag Condé Nast die Seite ausgerechnet in die Redaktion des hauseigenen Männermagazins GQ eingliedern wird. Pitchfork hatte nicht mehr gut genug „performt“, wie es in einer geleakten internen Memo an die Belegschaft heißt. Chefredakteurin Puja Patel und weitere Mit­ar­bei­te­r*in­nen haben die Redaktion bereits verlassen. Wie viele der 19 redaktionellen Stellen erhalten bleiben, ist unklar. Die Nachricht sorgte in den letzten Tagen für Bestürzung. Weltweit trauerten Musiker*innen, Mu­sik­jour­na­lis­t*in­nen und Fans um ihre Lieblingsplattform und es schwebte die Frage im Raum: War’s das jetzt endgültig mit Musikjournalismus?

Um die Aufregung zu verstehen, muss man die Geschichte von Pitchfork genauer betrachten. Plattenfan Ryan Schreiber gründete die Website 1996 in Chicago als Musikblog für edgy Gitarrenmusik, in einer Zeit also, als Printmagazine noch das Maß aller Dinge waren und ein Internetzugang noch mit dem nervigen Quietschen des Modems verbunden war. Pitchfork zeichnete sich von Anfang an vor allem dadurch aus, dass man Musik dort mehr als ernst nahm, egal wie misslungen oder abseitig sie zunächst erschien. Die Plattform lebte dabei lange vor allem von ihren Rezensionen, in denen Au­to­r*in­nen versuchten, Musik in kenntnisreichen, referenzgeladenen und manchmal einfach gaga Texten zu durchdringen.

Bestwertungen als Trophäe

Die zugehörigen Wertungen zwischen 0.0 und 10.0 konnten für Bands einen Karrierepush bedeuten oder eine große Schmach. Pitchfork machte einen Kult um Musik, Lesende machten einen Kult um Pitchfork-Rankings, davon lebte die Seite. Auch wenn das dafür sorgte, dass viele die Texte gar nicht richtig lasen und nur die Nummern checkten.

Dabei, und auch das machte ihren Reiz aus, veränderte sich die Plattform stetig. Am Anfang schrieben hauptsächlich Männer über Gitarrenmusik, doch vor allem in den letzten Jahren wurde die ganze Bandbreite von Pop-Musik von vielen weiblichen und auch queeren Stimmen analysiert. Das ist sicher ein Grund dafür, warum Pitchfork viele Mitbewerber überlebte. Denn in den letzten Jahren wurden reihenweise konventionelle Musikmedien eingestellt oder zusammengeschrumpft – von New Musical Express in UK bis hin zu Spex in Deutschland. Das Publikum für Texte über Musik wird nicht gerade größer.

Die Wahrheit ist aber auch: Obwohl Condé Nast in dieser Geschichte das ultimative Böse darstellt, weil es das immer queerer und weiblicher werdende Biotop in ein Medium eingliedert, das für eine eher konservative Männlichkeit steht, hätte Pitchfork ohne den großen Geldgeber womöglich gar nicht den Journalismus liefern können, für den es in den letzten Jahren auch stand. Einen Journalismus, der sich nicht nur mit der Exegese von Musik selbst, sondern in Essays und Recherchen auch mit den Machtstrukturen drumherum auseinandersetzte.

Neuer Fokus auf Recherchen

Im Jahr 2022 veröffentlichte Pitchfork eine Recherche von Redakteur Marc Hogan zu Missbrauchsvorwürfen gegen den Arcade-Fire-Frontmann Win Butler, die große Wellen schlug. Interessant ist das auch deswegen, weil Pitchfork einst mitverantwortlich für den Aufstieg von Arcade Fire waren, sie in höchsten Tönen lobten.

Mit der Frage „How did we get here?“ (Wie sind wir hier gelandet?) beginnt die Rezension zu „Funeral“ (9.7 von 10.0), dem Debütalbum der Band, und es folgt ein feinfühliger Text über Emotionen im Pop und den Wert des Albums in diesem Kontext. Dass man bei Pitchfork bereit dazu war, die alten Helden zu stürzen, auch wenn es schmerzhaft ist, spricht für das journalistische Ethos der Plattform. Denn größtenteils kommen #MeToo-Recherchen gerade nicht von Musikmedien und Kulturressorts.

Vor wenigen Tagen schrieb Hogan, der mittlerweile nicht mehr für Pitchfork arbeitet, in einem persönlichen Text für den Rolling Stone darüber, dass er überhaupt nur durch das Condé-Nast-Geld eine feste Redakteursstelle bekommen konnte. Ohne die Rückendeckung wären solche Recherchen schwer zu stemmen gewesen. Andererseits: Ein launiger Essay über die unsichtbare Arbeit von Müttern im Pop-Betrieb, wie ihn die Autorin Allison Hussey im letzten Jahr für Pitchfork schrieb, ist bei GQ undenkbar. Es stellt sich ohnehin die Frage, warum Condé Nast mit dem verbliebenen Pitchfork-Team nicht einfach die Musikberichterstattung vom hauseigenen Ober-Nerd-Magazin Wired verstärkt.

Wie also, um auf die Arcade-Fire-Rezension zurückzukommen, sind wir hier gelandet?

Die eine Antwort darauf gibt es nicht. Aber dass Pitchfork vor allem an dem Medium Text festhielt und Podcasts oder Videocontent eher stiefmütterlich behandelte, ist sicher ein Grund für die mangelnde „Performance“. Denn gerade dort passiert aktuell interessanter Musikjournalismus. Als Online-Plattform ausschließlich auf Text als Medium der Auseinandersetzung zu setzen, hat einen ähnlichen Effekt, wie Musik auch 2024 ausschließlich auf Vinyl zu veröffentlichen.

Es ist also zwar schade, dass Pitchfork als Plattform verloren geht; aber die wichtigen journalistischen Stimmen, die Pitchfork hervorgebracht hat, nehmen ihre Aufgabe viel zu ernst, um einfach zu verstummen. Genauso wie Mu­si­ke­r*in­nen sich schon immer an neue Technologien und Plattformen anpassen und dadurch im besten Fall eine Entwicklung durchleben, werden auch sie sich neue mediale Formate erschließen und weitermachen. Egal, ob das Newsletter sind oder TikTok-Channels.

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