Energieversorgung in der Ukraine: Angst vor der Kälte

Die Stadt Wowtschansk war von Russen besetzt, wurde befreit – und muss nun wieder zittern. Denn es kommt kein Gas mehr an.

ein Mann lädt zwei kleinere Baumstämme auf sein Fahrrad, das an einer Hauswand lehnt

Die Menschen in der Ukraine bereiten sich auf einen kalten Winter ohne Gasversorgung vor Foto: Oleksandr Ratushniak/reuters

WOWTSCHANSK taz | Das Zentrum der ostukrainischen Stadt Wowtschansk ist an diesem Tag wie ausgestorben. Auf den langen geraden Straßen tauchen nur hin und wieder versprengte Gestalten auf, einige davon haben offensichtlich schon reichlich Alkohol intus. Es ist Mittag, aber schon jetzt haben alle Läden zu.

Wowtschansk ist die Stadt in der Region Charkiw, die der russischen Grenze am nächsten liegt – etwa fünf Kilometer. Daher ist die Siedlung auch nach der Rückeroberung durch ukrainische Truppen täglich Ziel von Angriffen. Bis zum Ausbruch des Krieges lebten hier rund 17.000 Menschen, davon sind schätzungsweise bis zu 5.000 übrig. Mit den umliegenden Gemeinden sind es 36.000 Einwohner. Wowtschansk ist die einzige Stadt in der Ukraine, die bislang direkt Gas aus Russland bezog. Doch seit Ende Oktober fließt das Gas nicht mehr.

Die wenigen Passanten geben sich wortkarg. Die Angst, etwas „Falsches“ zu sagen, ist deutlich spürbar. Viele hier haben Verwandte in der russischen Grenzregion Belgorod. Und wer weiß schon, ob die Russen nicht versuchen werden, Wowtschansk ein zweites Mal zu besetzen.

Eine Frau geht langsam die Hauptstraße entlang. Sie ist bereit zu reden, möchte ihren Namen jedoch nicht nennen. Sie ist sich sicher, dass die Gasleitung nicht durch Kampfhandlungen beschädigt worden sei. Die Russen hätten das Gas absichtlich abgestellt.

„Das Atmen ist leichter geworden“

„Aber ich lebe in einem Privathaus mit Feststoffbrennkessel. Ich werde trotzdem heizen können.“ Die Behörden hätten versprochen, denjenigen, die es brauchen, Brennholz zu geben. Sie wolle hier bleiben, auch im Winter. Schließlich habe sie noch eine Arbeit und auch während der russischen Besatzung habe sie in der Stadt ausgeharrt.

„Die Russen haben die Bevölkerung hier normal behandelt. Aber die Atmosphäre war bedrückend, vor allem, wenn die Soldaten uns anlächelten. Das alles war so niedrig und ekelhaft. Ich war einfach nur angewidert“, erzählt die Frau. Auf die Frage, was sich seit der Rückkehr der ukrainischen Truppen nach Wowtschansk geändert habe, sagt sie: „Das Atmen ist leichter geworden.“

Bei dem 60-jährigen Rentner Aleksei Meschkow wird es kalt werden, obwohl auch er in einem Privathaus lebt. Er überlegt, nach Charkiw in die Wohnung seiner Tochter zu ziehen, die ins Ausland gegangen ist.

Es kursieren Gerüchte über eine kaputte Pipeline in Belgorod in Russland. „Ein Freund hat mich angerufen. Die Leitung sei unterbrochen, auf der anderen Seite. Anscheinend eine Granate. Angeblich haben Reparaturarbeiten begonnen. Aber ob dann auch Gas fließt?“, fragt sich der Rentner. „Ich habe mir das Pipelineschema angesehen. Zu uns führt nur eine Leitung, das war’s. Die kann von dort auch einfach gesperrt werden.“

Mit der Verschiebung der Front gen Norden und damit in Richtung der Grenze, erzählt Meschkow, hätten viele Menschen aus Furcht vor Angriffen Wowtschansk verlassen und seien auch nach Russland, zu Verwandten, gegangen. „Ich selbst stamme aus dem Gebiet Belgorod, aber ich bin geblieben. Und ich denke auch nicht daran, wegzugehen. Warum sollte ich? Wer wird mich da ernähren? Hier habe ich wenigstens eine kleine Rente“, sagt Meschkow.

In der Ferne ist das Grollen von Artillerie und Granaten zu hören. Tamaz Gambaraschwili, der am 27. Oktober 2022 von Präsident Wolodymyr Selenski zum Leiter der Militärverwaltung von Wow­tschansk ernannt wurde, erzählt, dass die Gasversorgung der Stadt schon lange zu schaffen mache.

Vor Jahren sei auf ukrainischer Seite ein Projekt für den Bau einer Gaspipeline nach Wowtschansk entwickelt worden. Das Projekt wurde jedoch nie umgesetzt, weil die Menschen die Verlegung von Röhren auf ihren Grundstücken nicht zugelassen hätten. „Wir setzen jetzt unsere ganze Hoffnung auf Stromnetze und feste Brennstoffe. Dennoch wird der nächste Winter für die Bevölkerung hier ex­trem hart werden“, sagt er.

Gambaraschwili erzählt, dass Stiftungen, Freiwillige und die Regionalregierung von Charkiw humanitäre Hilfe für die Stadt leisten. „Aber um den Winter zu überstehen, brauchen wir jetzt Dickbauchöfen, elektrische Konvektoren, Elek­tro­herde zum Kochen, Gasflaschen, Öfen, warme Kleidung und Decken.“

Hochhäuser sollen evakuiert werden

Das größte Problem der Stadt, sagt Gambaraschwili, sei die Nähe zur Grenze. Die Russen könnten die Stadt praktisch mit jeder Art von Waffen angreifen. Es sei sehr schwierig, zum normalen Leben zurückzukehren und den Dienstleistungssektor wieder in Gang zu bringen. Offiziellen Angaben zufolge haben derzeit fast 9.000 Häuser in Wowtschansk und 16 umliegende Dörfer kein Gas.

Auch Elena Schapoval, Pressesprecherin der Gebietsverwaltung von Charkiw, hält es für unmöglich, die Gasversorgung von ukrainischem Territorium aus vor dem Einbruch der Kälte wieder aufzunehmen. „In den Hochhäusern wird es keine Heizung geben“, sagt sie.„Ein Termin für die Evakuierung wird demnächst bekannt gegeben.“

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

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