Erste Sitzung des neuen Abgeordnetenhauses: Eine Art Familientreffen

Bei der ersten Sitzung gibt es viele fraktionsübergreifende Umarmungen, großväterlich mahnende Worte für die Piraten und de facto das erste rot-schwarze Bündnis seit Willy Brandt.

Das Berliner Abgeordnetenhaus kam am Donnerstag zu seiner ersten Sitzung nach der Wahl am 18. September zusammen. Erstmals dabei: Die Piratenpartei. Bild: dapd

Da eilt die grüne Abgeordnete Jasenka Villbrandt quer durchs Plenum, um ihrer neugewählten CDU-Wahlkreiskonkurrentin Hildegard Bentele zur Begrüßung um den Hals zu fallen. Da plauscht der SPD-Linke Raed Saleh lächelnd mit dem CDU-Rechten Kurt Wansner. Und da beglückwünscht die Kantinenkassiererin eine neue SPDlerin zu ihrer Halskette. Es ist die heimelige Atmosphäre eines - gelungenen - Familientreffens, das die erste Sitzung des neuen Abgeordnetenhauses am Donnerstag prägt. Umso mehr, weil sich manche in großväterlicher Weise dem neuesten Mitglied dieser Familie widmen: der Piratenpartei.

Die Zuschauertribünen sind voll, Ehrengäste wie frühere Parlamentspräsidenten und die inzwischen 89-jährige SPD-Ikone Egon Bahr verfolgen die Sitzung. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) will sogar ein japanisches TV-Team gesehen haben. Bahr, Anfang der 60er Jahre Senatssprecher von Wowereits Vorgänger Willy Brandt, ist in gewisser Weise das Bindeglied zu dem, was gut eine halbe Stunde nach Beginn passiert. Da formiert sich eine künftige Koalition, wie es sie seit Zeiten Brandts im Abgeordnetenhaus nicht gab: Rot-Schwarz. SPD und CDU, die offiziell noch gar nicht koalieren, stimmen gemeinsam einen Grünen-Antrag nieder, den Linkspartei und Piratenpartei unterstützen. Solide ist die Mehrheit, Rot-Schwarz stellt 86 der 149 Abgeordneten.

Wowereit aber mag in diesem Moment wenig Historisches sehen. "Nichts", sagt er später auf die Journalistenfrage, welches Gefühl dieses gemeinsame Händeheben von SPD und CDU bei ihm ausgelöst habe. Er sei ja 1995 zu Zeiten eines Bündnisses mit der CDU ins Parlament gekommen, begründet er das. Was den kleinen Unterschied außer Acht lässt, dass damals die Union den Regierungschef stellte.

Die Piraten fügen sich auffallend diszipliniert in den Sitzungsablauf. Die 19-jährige Susanne Graf assistiert dem 58 Jahre älteren Alterspräsidenten Uwe Lehmann-Brauns von der CDU souverän bei der Sitzungsleitung, bis das Präsidium mit dem SPD-Mann Ralf Wieland an der Spitze gewählt ist. Grafs Fraktionskollege Fabio Reinhard spricht in der ersten Piraten-Rede im Parlament vom "hohen Haus" und klingt dabei nicht ironisch. Mehrere ältere Mitglieder dieses Familientreffens greifen die Forderung der Piraten nach mehr Transparent auf und geben ihnen großväterlich-mahnende Worte mit. Lehmann-Brauns etwa lehnt einen durchleuchteten Menschen ab - der sei nur in der Diktatur erwünscht. Wieland will prüfen, was in Sachen Transparenz verbessert werden könne. Man könne aber auch heute schon stolz sein auf ein hohes Maß davon, fügt er hinzu.

Anträge stellen die Piraten auch. Ungerecht fühlen sich sich behandelt, weil sie wie die Linkspartei keinen Vizepräsidenten stellen. Wowereit wird dazu später gegenüber Journalisten sagen, da hätte man sich doch eher gedacht, dass sich die Piraten auf inhaltliche Dinge konzentrieren würden statt auf Posten.

Die Piraten wollen aber nicht nur mehr Gewicht für sich, sondern für jeden einzelnen Abgeordneten des Parlaments. Antragsrechte, Rederechte - "ich fasse es nicht, wie wenig Rechte der einzelne Abgeordnete hat", sagt ihr Vertreter Pavel Mayer. Er kündigt an, dass die Piraten ihr Anliegen auch beim Verfassungericht vorbringen wollen. Das bringt ihm den demonstrativen Beifall des linken Grünen-Abgeordneten Dirk Behrendt ein. Der hatte erklärt, dass der linke Parteiflügel seine Positionen über individuelle Anträge und Rederechte deutlich machen will.

Auch diesen Streit kommentiert Wowereit gern: Da stehe man fassunglos dabei, sagt der Regierende Bürgermeister, der vor drei Wochen noch mit den Grünen über eine Koalition gefeilscht hat und sich merklich darin bestätigt sieht, nun mit der CDU zu verhandeln.

Für Verwirrung sorgt, dass in der ersten Reihe der Grünen-Fraktion neben den Fraktionschefs Ramona Pop und Volker Ratzmann Bildungspolitiker Özcan Mutlu sitzt - bislang kein Mann der ersten Reihe. Sollte das der ominöse Kompromisskandidat, den sich die Parteilinke im Richtungsstreit auf einem der beiden Chefsessel wünscht? Zu weit gedacht, wie später die neue grüne Abgeordnete Antje Kapek enthüllen kann: Man habe die Sitzordnung schlicht ausgelost.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.