Eskalation in Nahost: „Es gibt hier keinen sicheren Ort“

Was sagen die Menschen vor Ort zur Gewalt zwischen Israel und Hamas? Ein Dekan aus Gaza, eine israelische Zivilistin und ein Reservist berichten.

Rettungskräfte vor einem zerstörten Haus.

Palästinensische Rettungskräfte nach einen israelischen Luftangriff in Gaza-Stadt am 9. Oktober Foto: Mahmoud Issa/reuters

TEL AVIV taz | Wie nehmen die Menschen vor Ort die Gewalteskalation zwischen Israel und der radikal-islamischen Hamas wahr? Die taz hat am Montag einige Stimmen eingeholt.

Wesam Amer, Dekan an der Universität Gaza

Mit meiner Familie habe ich unser Haus im Süden von Gaza verlassen, wir halten uns jetzt in der Nähe auf. Die Situation hat sich in der letzten Nacht extrem verschlimmert. Gaza ist von allem abgeschnitten. Es gibt nur noch zwei Stunden am Tag Strom, die Wasserversorgung fällt immer wieder aus.

Die israelischen Luftangriffe zielen jetzt auch auf Wohnhäuser, sodass Tausende Menschen aus ihren Häusern fliehen. Es gibt immer wieder Warnungen der Armee auf die Telefone der Nachbarn, sodass wir die Häuser verlassen und warten müssen, was sie bombardieren. Es gibt aber auch Angriffe ohne Warnung. Viele versuchen deswegen in den Schutzräumen des UN-Hilfswerks unterzukommen, die aber keinen vollkommenen Schutz bieten. Es gibt hier keinen sicheren Ort.

Eine Eskalation wie die jetzige haben wir noch nicht erlebt. Diese Widerstandsaktion der Hamas, dass sie den Zaun durchbrechen und in israelische Siedlungen eindringen konnten, das hat uns überrascht. Ich hoffe darauf, dass Israels rechtsextreme Regierung daran zerbrechen wird.

Ich rechne mit einer sehr heftigen Antwort Israels, die wiederum zu neuen Angriffen der Hamas führen wird. Und ich gehe davon aus, dass es zumindest einen teilweisen Einmarsch der israelischen Armee geben wird. Ich weiß nicht, wie wir uns darauf vorbereiten sollen.

Ich habe eine deutsche Staatsbürgerschaft und versuche mit meiner schwangeren Frau Gaza über Ägypten zu verlassen, aber wir kommen nicht an die Grenze und die deutsche Vertretung hier ist nicht zu erreichen. Ich glaube, dieser Krieg wird noch sehr lange dauern.

Ronit Farkash, Bewohnerin des israelischen Moschaws Tkuma

Am Samstagmorgen war ich mit den Hunden spazieren, als die Sirenen eingesetzt haben. Hier in der Nähe von Gaza liegen zwischen dem Alarm und dem Einschlag 15 bis 30 Sekunden und unbewohnte Gebiete verteidigt der Iron Dome nicht, weil es zu teuer wäre. Also bin ich, so schnell ich konnte, zurück zu den Häusern gerannt. Ich lebe seit 20 Jahren im Moschaw Tkuma, etwa sieben Kilometer von Gaza entfernt, und mit mir mein Mann und zwei Töchter. Meine zwei ältesten Kinder sind bei der Armee.

Wenn ich zurückschaue, ist es immer noch, als würde ich einen Film sehen. Wir wussten nicht, was passiert, bis wir auf den Bildschirmen unserer Kameras einen Pick-up mit Bewaffneten sahen. Ich glaube, wir hatten Glück, dass das Tor zu unserem Dorf wegen des Feiertags geschlossen war. Sie sind dann weitergefahren. Kurz darauf haben wir aus dem Nachbardorf Netivot Schüsse gehört. Danach kamen langsam die Nachrichten, was passiert ist und dass überall bewaffnete Terroristen auf den Straßen sind.

Rauch über Gaza-Stadt.

Rauch über Gaza-Stadt am 9. Oktober Foto: Mohammed Salem/reuters

Mein Mann wurde deswegen eingezogen, und weil ich nicht mit den zwei Kindern im Schutzraum bleiben wollte, sind wir trotz der Gefahr nach Norden gefahren. Dort bleiben wir jetzt, bis die Lage wieder unter Kontrolle ist.

Ich weiß nicht, wie es hier weitergehen soll. Diese Dörfer, in denen die Hamas Menschen umgebracht und entführt hat, werden nie wieder dieselben sein. Viele Leute werden nicht ­zurückkehren und ihre Kinder ­aufziehen, wo ihre Freunde oder Nachbarn abgeschlachtet wurden. Wir vertrauen unserer Regierung nicht mehr, es hat jedes Gefühl von Sicherheit zerstört.

Nach dem, was sie mit uns gemacht haben, will ich, dass die Armee etwas Drastisches unternimmt. Ich will, dass es diesmal nicht bei Luftangriffen bleibt. Ich will, dass sie jedes Mittel einsetzen, um auch den letzten Hamas-Anhänger zu treffen, selbst wenn es auf Kosten Unschuldiger geht.

Shalom, israelischer Reservist aus Tel Aviv

Bisher war ich als Reservist an allen Operationen beteiligt. Im Libanon und auch in Gaza. Es war für mich immer selbstverständlich, zu gehen, wenn „der Anruf“ kam: Um meine Familie und meine Freunde zu schützen. Sie haben mich jetzt wieder angerufen, und ich weiß noch nicht, was ich tun soll. Es fühlt sich sehr fremd an, nicht zu gehen. Den größten Teil meines Erwachsenenlebens war ich in Situationen wie diesen kein Zivilist.

Doch diesmal ist es anders. Ich habe den Feiertag am Samstag mit meiner Partnerin bei ihrer Familie verbracht. Zu sehen, wie sich alles entwickelt hat, war schockierend. Wir kennen den üblichen Ablauf, es ist wie eine düstere Routine: Die Hamas oder die anderen Organisationen schießen Raketen, dann gibt es Luftangriffe und am Ende verhandelt Katar oder Ägypten einen Waffenstillstand. Aber seit klar wurde, was dort passiert ist, bin ich extrem wütend und traurig. Was wir erleben, ist anders als alles, was ich je erfahren habe. Ich glaube, selbst meine Eltern haben nie eine derart schlimme Situation erlebt.

Ich kann nicht ignorieren, wie viel Macht unsere Politiker in den letzten 15 Jahren über die Situation hatten und wie ihre Politik der Hamas dabei half, zu wachsen. Dass es sehr wohl Chancen und Möglichkeiten gab, einen Dialog mit vernünftigeren Stimmen in der palästinensischen Gesellschaft zu suchen. Dass sie hätten verhindern können, dass sich eine Situation wie jetzt in Gaza jemals hätte so entwickeln können.

Und wo war die Armee jetzt, als es passiert ist? Offenbar war ein Großteil im Westjordanland damit beschäftigt, Siedler dabei zu schützen, wie sie ihre Gottesdienste vor Palästinensern abhalten. Es ist verrückt, wie dünn besetzt die Grenze zu Gaza gewesen sein muss.

Ich hoffe, dass es der Armee gelingt, die Hamas dort dieses Mal wirklich zu besiegen. Vielleicht kann sich dann auch die Situation für die ­Palästinenser wieder verbessern. Und ich glaube, dazu braucht es eine Bodenoffensive. Ob ich selbst gehe, weiß ich noch nicht.

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