Essay zur europäischen Bürgerschaft: Herzblut für die Demokratie

Europa driftet immer weiter nach rechts – und es herrscht Politikverdrossenheit. Warum wir einen Aktionsplan für die Bürger brauchen.

Feuerwerk über einem alten Tempel

Demokratie in Europa muss nicht nur harte Arbeit sein – man darf sie auch mal feiern Foto: dpa

Viele Reden sind geschwungen worden, um den schlechten Gesundheitszustand der EU zu diagnostizieren und Rezepte zur Behandlung auszustellen. Doch Worte konnten nur wenig bewirken: Die EU ist wie ein Patient, der die Krankheit nicht annehmen will, von der Arznei ganz zu schweigen. Und je schlimmer die Krankheit, desto weniger effektiv sind konventionelle Heilmittel, nicht zuletzt, weil sie eine Weile brauchen, um zu wirken – doch die Zeit läuft der EU inzwischen davon.

Tatsächlich ist es vielleicht schon so weit, dass die Medizin den Zustand nur noch verschlimmert. Das lässt die allergische Reaktion vieler Bürger auf die Aussicht eines repräsentativen EU-Parlaments vermuten, das mit gleichem Stimmrecht gewählt und mit vollem Gesetzgebungsrecht ausgestattet ist. Alles, was sie in solchen Plänen erkennen können, ist „mehr Europa“ – im Sinne von mehr für Europa (das heißt: für die anderen), aber nicht für mich.

„Mehr für dich“ verheißen Populisten derzeit: mehr Kontrolle, mehr Sicherheit, Jobs, Unabhängigkeit, Wohlstand, Macht. Diesen Boden muss die EU dringend zurückgewinnen, indem sie den märchenhaften Versprechungen der Populisten ein paar fabelhafte eigene Angebote entgegenhält.

Was ist zu tun? In einem Wort: DEMOS. Der EU-Kreislauf braucht eine Infusion gewöhnlicher Bürger – das Herzblut der Demokratie. Der Demos wird immer wieder von Demagogen beschworen, die behaupten, für die einfachen Leute – und zu ihnen – zu sprechen, doch ihre Definition „der Leute“ ist vage und stets ausgrenzend. Es gilt, die Idee des Demos als vielgestaltigen und offenen Körper zu restituieren, und die EU muss sich dieser Aufgabe annehmen, denn allein durch die Wiederbelebung eines Demos kann sie sich selbst kurieren. Der altgriechische Begriff trägt ein kurzes Alphabet in sich, das im Englischen einen Aktionsplan buchstabiert:

Democracy / Demoratie

European Days / Europatage

Message / Botschaft

Others – European Green Card Lottery / Andere – Europäische Greencard-Lotterie

Social (and Military) Service / Zivil-(und Militär-)dienst

Der DEMOS-Plan geht davon aus, dass zentrale Brüsseler Einrichtungen demokratischer werden müssen und dass die EU-Politik künftig weniger unternehmerischen und nationalen Interessen verpflichtet sein darf als vielmehr den Interessen aller Bürger. Dementsprechend führt der Plan weitere Wege aus, umgehend ein stärkeres Band zwischen der EU und jedem einzelnen Bürger zu knüpfen.

Die Europatage: fünf Feiertage zwischen dem 5. und 9. Mai, die in allen Mitgliedstaaten erstmals 2017 begangen werden. Mitten im Frühling, während die Natur sich erneuert, bekommt auch Europa die Chance zur Verjüngungskur. Während dieser Zeit ist der öffentliche Verkehr zwischen den EU-Ländern kostenlos, Hotels bieten vergünstigte Preise an und mehrere öffentliche Einrichtungen laden zu Tagen der offenen Tür ein. Überall finden europabezogene Straßenfeste statt, Diskussionen, Lesungen, Spiele, Ausstellungen, Konzerte, Theater- und Filmvorführungen – kostenlose interkulturelle Aktivitäten, bei denen man erfahren und überlegen kann, was es heißt, Europäer zu sein.

Was heißt es, Europäer zu sein?

Das ist nicht zu bezahlen! Wirklich? Kann eine Organisation, die Milliarden für die Rettung von Banken ausgibt, ihr Geldsäckel nicht öffnen, um in die eigenen Bürger zu investieren, insbesondere, wenn die Kosten, es nicht zu tun, möglicherweise den eigenen Untergang bedeuten?

Das ist Bestechung! Zugegeben, gewissermaßen ist es das. Doch jahrzehntelang hat die Union mit allen möglichen Fördermitteln und Sonderbestimmungen Anreize für die Wirtschaft geschaffen – warum nicht den eigenen Bürgern ein Löffelchen Zucker anbieten?

Es schadet der Wirtschaft! Schon viel zu lange wurde die Politik bestimmt von dem, was „gut für die Wirtschaft“ ist – im Irrglauben, früher oder später erwachse daraus ganz von selbst „Gutes (Güter) für alle“. Die Europatage würden einen ungemein mutigen Schritt der EU weg vom neoliberalen Paradigma bedeuten, hin zur Privilegierung anderer Arten von „Wachstum“. Solche Feiertage schenken allen Bürgern einen beträchtlichen Batzen der wertvollsten Ware überhaupt – Zeit. Diese zusätzliche Freizeit hat das Potenzial, tiefgreifende persönliche und gesellschaftliche Entwicklungen anzustoßen.

Von welchem Raum reden wir?

Ein Eingriff wie die Europatage mit dem dazugehörigen Verreisen, Vermischen und Treffen der Menschen wird nach und nach – und das hat die Union bislang auf spektakuläre Weise versäumt – ein echtes Gemeinwesen schaffen, einen bewussten Demos, bestehend aus unzähligen Poleis. Es wird den irregeleiteten nationalistischen Impuls zerstreuen, der momentan überall auf so beunruhigende Weise stärker wird.

Das Zusammentreffen von Menschen in verschiedenen Konstellationen und an verschiedenen Orten bekräftigt Hannah Arendts prägnante Prämisse, die Polis – und das lässt sich auf den Demos übertragen – sei „nicht die Stadt im Sinne ihrer geographischen Lokalisierbarkeit, sie ist vielmehr die Organisationsstruktur ihrer Bevölkerung, wie sie sich aus dem Miteinanderhandeln und -sprechen ergibt; ihr wirklicher Raum liegt zwischen denen, die um dieses Miteinander willen zusammenleben, unabhängig davon, wo sie gerade sind“.

Zwei Europatage bestehen bereits: der 5. Mai für den Europarat und der 9. Mai für die EU. Beide gelten als „Symbol“ der Union, ebenso wie die Flagge, die Hymne, das Motto und der Euro. Doch im Großen und Ganzen kommen beide momentan über Tage der offenen Tür in ein paar Brüsseler Institutionen und einen Plakatwettbewerb, an dem eine Handvoll SchülerInnen teilnehmen, nicht hinaus. Was für eine vertane Chance! Mit beiden Feiertagen als Klammer einer fünftägigen Festwoche würde die EU ein nicht zu übersehendes Symbol schaffen, das jeder für sich mit Bedeutung füllen kann.

Im Angesicht des Neofaschismus

Trotzdem – man kann doch keine Feiertage aus dem Nichts schaffen! Das ist rechtlich unmöglich! Dabei legen Regierungen regelmäßig öffentliche Trauertage fest. Und mehr noch, immer rascher rufen sie „Ausnahmezustände“ aus und hebeln im Namen der nationalen Sicherheit die üblichen Gesetze aus, um das Gemeinwohl zu schützen, wie etwa Frankreich nach den jüngsten Terroranschlägen in Paris und Nizza. Dass das Land auch Monate später in diesem Zustand verharrt, ist nur ein Beispiel für Walter Benjamins vor Jahrzehnten gemachte Beobachtung – Giorgio Agamben hat sie in jüngerer Zeit weiter ausgeführt –, dass in modernen Demokratien der Ausnahmezustand die Regel geworden sei.

„Wir müssen“, so Benjamin, „zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern.“ Es ist wieder einmal ein kritischer Augenblick für Europa, das sich gegen eine Art Neofaschismus zur Wehr setzen muss. Ein wahrer Ausnahmezustand – in radikaler Abweichung von den Beschränkungen und Auflagen, die damit üblicherweise einhergehen – würde eine Zeitspanne schaffen, in der neue, den Status quo verändernde Möglichkeiten entstehen können.

Ist es möglich, die Europatage ins Leben zu rufen, ist der restliche DEMOS-Plan ebenfalls machbar. Dazu gehört die Schaffung eines Europadienstes, einem EU-weiten Äquivalents zum nationalen Zivildienst. Alle Bürger zwischen 18 und 25 Jahren werden gut dafür bezahlt, dass sie ein oder zwei Jahre in mindestens zwei verschiedenen EU-Mitgliedstaaten leben, soziale Aufgaben übernehmen und europäische Sprachen lernen.

Für die Jüngeren ist der Dienst verpflichtend, doch Bürger jeden Alters können sich für den einjährigen Dienst bewerben. Mit Blick auf das erstarkende Interesse an einer Europäischen Armee angesichts der unsicheren Zukunft der NATO spricht auch viel für eine freiwillige militärische Variante des Europadienstes. All dies baut auf dem Geist der Europatage auf, die Bindung zur EU zu stärken und eine gemeinsame europäische Perspektive zu kultivieren, die für den Erhalt der Union entscheidend ist.

Im realen Raum gibt es wenig Handlungsmöglichkeit

Menschen jeder politischen Haltung fühlen sich entfremdet, weil es für sie nur wenige Gelegenheiten gibt – von Wahlen und Demonstrationen abgesehen –, sich an politischen Diskursen und Prozessen zu beteiligen oder sie gar zu beeinflussen. Viele versuchen, dieses Bedürfnis in der virtuellen Welt zu befriedigen, insbesondere in den sozialen Medien, die in einem gewissen Maße die Aufgabe der Polis übernommen haben, „die Chancen zu organisieren, unter denen ein jeder sich auszeichnen und in Wort oder Tat zur Schau stellen konnte, wer er in seiner einmaligen Verschiedenheit war“. Doch ohne Gegenpart im realen Raum bleibt die Bestätigung in den sozialen Medien ungenügend. Das zeigt sich anhand der fortwährenden Unzufriedenheit der meisten Nutzer, die sich auf sie als wichtigste Informationsquelle und Ausdrucksplattform verlassen.

Die Unzulänglichkeit des Mediums offenbart sich auch in der Sprache, die es mehr und mehr hervorbringt: die Rhetorik der Frustration und Übertreibung, der Beleidigung und des Hasses. Zudem straft das Potenzial des Internets, die Wirklichkeit zu verdrehen und Daten zu manipulieren – Fake News und ihre Verbreitung durch Bots, die menschliche Aktivität nachahmen, zeigen es nur zu deutlich –, seine Verheißungen von mehr Freiheit und Gleichheit Lügen. Wenn die Demokratie wieder aufblühen soll, muss die Hegemonie des Internets als alternativer Ort der Öffentlichkeit durch die Schaffung von realen Orten und Gelegenheiten, andere Menschen zu treffen, herausgefordet werden.

Größere Solidarität untereinander ist das eine. Zudem müssen Europäer noch offener denjenigen gegenüber werden, die aus Nicht-EU-Ländern zu uns kommen. Eine menschlichere gemeinsame Antwort auf Zwangsmigration ist in weiter Ferne, und dennoch müssen wir – aufgrund von Klimawandel, demografischen Spannungen, internationalem Terrorismus und ökonomischer Ungleichheit – damit rechnen, dass die Zahlen derjenigen, die zur Flucht getrieben werden, weiter steigen werden und dass immer mehr Menschen in der Hoffnung auf ein besseres Leben alles riskieren werden.

Nicht nur muss das Recht auf politisches Asyl hochgehalten werden, wir müssen auch auf all jene Menschen in weniger stabilen oder wohlhabenden Ländern zugehen, die wie wir in Freiheit, Sicherheit, Wohlstand und Frieden leben möchten. Zum Beispiel mit einer europäischen Greencard-Lotterie, die dem US-amerikanischen Modell nachempfunden ist. Menschen aus aller Welt bewerben sich und die EU vergibt jährlich 100.000 Visa an Einwohner von Ländern, aus denen ansonsten wenige Menschen zu uns auswandern. Ein vorab ausgehandeltes Quotensystem verteilt die Neuankömmlinge auf ganz Europa. Eine solche Regelung wäre anderen gegenüber fair, und die Mitgliedstaaten hätten die Möglichkeit, die Bewerber zu überprüfen und eine reibungslose Übersiedelung vorzubereiten.

Eine Zeitung für die EU

Der DEMOS-Plan sollte von einer mutigen PR-Kampagne begleitet werden, die zunächst die Ziele erläutert und später Resultate zusammenfasst. An dieser Stelle kommt der mittlere Buchstabe des DEMOS-Alphabets ins Spiel: message, Botschaft. Die Bürger mithilfe von Werbung zu informieren, ist legitim und notwendig. Neben der Nutzung sämtlicher Medien sollte die EU ihre eigene Zeitung gründen, die ähnlich wie die New York Times als wöchentliche (und übersetzte) Beilage in mehreren europäischen Zeitungen erscheint. So könnte sich die EU geschlossener in einem Medienlabyrinth behaupten, in dem nationale Agenden dominieren und vorsätzlich Zerrbilder verbreitet werden.

DEMOS. Eine Europäische Union der Menschen, eine Demokratie, die nicht rein repräsentativ ist, sondern auf vielen Ebenen partizipativ. Nur ein aktiver Demos kann der EU neues Leben und Bedeutung einhauchen.

Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender

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