Essays des Ukrainers Juri Andruchowytsch: Hellsichtiger Realist

Der ukrainische Autor Juri Andruchowytsch hat lange vor dem russischen Angriff vor dem Aggressor gewarnt. Seine Essays zeigen das deutlich.

Ein Portrait von Juri Andruchowytsch

Skeptisch gegenüber floskelhaften Friedensforderungen: Juri Andruchowytsch Foto: Sabine Gudath/Imago

Man muss sich Juri An­dru­cho­wytsch als einen Rufer in der ukrainischen Wüste vorstellen. Den Eindruck jedenfalls gewinnt man, wenn man dessen gesammelte Artikel und Essays aus den Jahren von 2014 bis 2023 liest, die nun unter dem Titel „Der Preis unserer Freiheit“ erschienen sind.

Der Schriftsteller aus dem ukrai­ni­schen Iwano-Frankiwsk hat seit 2014 fortdauernd gewarnt und gemahnt, welches Russlands eigentliche Kriegsziele in der Ukraine sind, hat mit rhetorischen Waffen gegen die europäische Apathie und Ignoranz gekämpft. Die Ukrai­ne habe demnach das Pech gehabt, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zum „Sektor ohne Perspektive“ (An­dru­cho­wytsch, 2021) zu gehören, habe im Westen „als vom russischen Organismus losgerissene wandernde Thrombose“ (An­dru­cho­wytsch, 2022) gegolten.

Juri Andruchowytsch: „Der Preis unserer Freiheit. Essays“. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Suhrkamp, Berlin 2023, 207 Seiten, 18 Euro

Früh hat er erkannt, dass in der Ukraine „heute ein Remake des historischen Dramas aufgeführt [wird], in dem Mitteleuropa als das Territorium fungiert, auf dem die autokratischen Werte zum wiederholten Male einen Angriff gegen die liberalen starten“ (An­dru­cho­wytsch, 2014).

They belong to us

Der Autor, einer der berühmtesten Schriftsteller der Ukraine, muss bis zum 27. Februar 2022, drei Tage nach Beginn der Full-Scale-Invasion, warten, ehe man in der EU begriffen hat, was das Gebot der Stunde ist. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagt da erstmals den Satz: „They belong to us, they are one of us and we want them in.“

Mit „they“ sind die Ukrainer gemeint, „us“ ist die EU. „Endlich, seufzte ich während des Luft­alarms, unter dem Heulen der Sirenen“, notiert Andrucho­wytsch lapidar. Er wird auch kürzlich, Anfang November wieder genau hingehört haben, als von der Leyen in Kyjiw war und verkündet hat, dass die Ukrai­ne die Voraussetzungen für Beitrittsverhandlungen erfülle.

Wer dieses schmale Buch liest, kann die Ukraine der jüngeren Zeit nahezu vollständig begreifen. Andruchowytsch schreibt über den Nationaldichter Taras Schewtschenko, er erklärt, warum dieser bis heute so bedeutsam ist. Das russische Zarentum nannte Schewtschenko damals eine „Brutstätte der Niedertracht“, die Kolonisierung der Ukraine hat er zeitlebens bekämpft.

Andruchowytsch erinnert auch an die tiefen Wunden, die Sowjetrussland seinem Heimatland zugefügt hat: „Während der 1920er und besonders 1930er Jahre (der Höhepunkt fällt auf das Jahr 1937) kam es zu massenhaften Repressionen der Sowjetmacht gegen Vertreter der ukrainischen Kultur, Wissenschaft und Bildung, vor allem gegen Schriftsteller – ein Phänomen, das später die Erschossene Wiedergeburt genannt wurde“, führt er aus („Ross­trilja­ne widrodschennja“).

Er erzählt auch von unaufgearbeiteten Massenmorden der Russen in Demjaniw Las nahe seinem Heimatort: 1941 hat das NKWD dort mehr als 500 Menschen erschossen und erstochen. Die Verantwortung übernahm Russland nie, doch die russische Menschenrechtsorganisation Memorial deckte die Verbrechen auf.

Freiheit und die neue Zeit

Andruchowytsch schildert, wie Russland im Lauf seiner Geschichte immer wieder Simulakren schuf, um sich und seine Expansion zu legitimieren – von der Zarenzeit, in der ein russisches Imperium erfunden wurde, bis hin zum ukrai­ni­schen Präsidentschaftswahlkampf im Jahr 2004, wo die Erzählung von den Nazis in der Ukrai­ne ersonnen wurde.

Die Geschichtsverkehrung Putins seither – insbesondere seit dem 24. Februar 2022 – darf man als traurigen Höhepunkt in der Reihe russländischer Simulakren bezeichnen.

Den Titel seines Bands entnimmt Andruchowytsch der Rede, die er hielt, als er 2022 in Düsseldorf den Heinrich-Heine-Preis entgegennahm. „Alle Kraft der Menschenbrust wird jetzt zu Freiheitsliebe, und die Freiheit ist vielleicht die Religion der neuen Zeit“ (1828), schrieb Heine in seinen „Reisebildern“ – um jene 1991 wiedergeborene Religion der Ukrainer geht es dem Autor.

Sicher werden einige sein Buch wieder als antirussisches Pamphlet lesen, wenn Andruchowytsch einige Male von „den Russen“ spricht. Doch will man ihm das wirklich absprechen, angesichts eines Heimatlands in Schutt und Asche?

Frieden- ein hinterhältiges Wort

In Bezug auf einen – derzeit – unmöglichen Frieden kann man An­dru­cho­wytsch einen Realisten nennen. „Frieden – das ist ein ziemlich hinterhältiges Wort“, schreibt er. „Frieden wollen alle. Auch der Aggressor will Frieden, denn sogar für den Aggressor ist der Krieg nur das Mittel zum Zweck. Erstaunlich selten – wenn überhaupt – findet sich auf der Welt ein Unhold, der erklärt, dass er nicht Frieden, sondern Krieg will. Selbst die fanatischsten Dschihadisten verlangen, dass man ihren ‚Dschihad‘ als etwas viel Größeres und Idealistischeres ansieht als bloßen Kampf.“

Man kann gerade in diesen Tagen, in denen auf den 24. Februar 2022 ein 7. Oktober 2023 folgte, gar nicht genug betonen, wie sehr es zunächst einmal das Recht der Angegriffenen ist, das Wort „Frieden“ zu definieren.

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