Evakuierungen von der Front: Abschied für immer

Noch immer leben Menschen in der Ostukraine unter russischer Besetzung oder direkt an der Frontlinie. Denn Evakuierung bedeutet auch Heimatverlust.

Löscharbeiten an einem brennenden Haus.

Löschversuche in Lyman im Donbass nach russischen Angriffen am 8. Juli Foto: Ukrainian Emergency Service/ap

Vor Kurzem haben wir in der Ukraine den 500. Tag seit Beginn des russischen Großangriffs „begangen“. Auch ich habe mich auf diesen Moment vorbereitet: Kurz vorher wurde meine Großmutter aus dem Frontgebiet evakuiert und das war für mich eine große Freude. Denn im Februar 2022 hatte sie sich noch geweigert, ihr Haus in Lyman im Gebiet Donezk zu verlassen. Sie blieb dort während der russischen Besetzung und lernte all die damit verbundenen „Freuden“ kennen. Ein Jahr lang hatte sie nicht einmal Strom.

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Das muss man sich einmal vorstellen: In der Stadt gab es nichts mehr, keine Apotheke, keine Geschäfte, weder Postamt noch Krankenhaus. Renten wurden nicht ausgezahlt, Panzer fuhren auf den Hof, am Himmel flogen die Kampfflugzeuge und die ganze Nacht über wurde das Haus von Explosionen erschüttert. So lebte meine Großmutter.

In solch einer Situation ist man sogar über eingeschränktes Hörvermögen froh. Nur, dass es nicht vor Granatsplittern und Druckwellen schützt. Und auch mit der Befreiung des Gebietes sind nicht alle Probleme gelöst, weil die Front immer noch nur 10 bis 15 Kilometer entfernt ist. Und die Russen immer noch darauf hoffen, eines Tages zurückzukommen.

Oft habe ich mich gefragt: Hat es sich gelohnt, dass Oma nicht gleich weggefahren ist? Aber diese Gedanken habe ich immer schnell wieder verworfen, denn es würde so klingen, als sei meine Oma selbst schuld an ihren Leiden. Dabei ist der Grund für unser Unglück bekannt: Russlands Angriffskrieg gegen unser Land.

„Warum gehen sie von dort, also dem Frontgebiet, nicht weg?“ – wenn diese Frage kommt, ist die Geschichte meiner Großmutter für mich immer ein Argument. Diejenigen, die in Frontnähe und in den besetzten Gebieten leben, sind in der Ukraine häufig mit Vorwürfen konfrontiert. „Wenn sie dort weggegangen wären, hätte es die ukrainische Armee jetzt leichter, die Städte zu verteidigen“, heißt es dann etwa. Oder: “Wenn sie nicht gegangen sind, dann warten sie wohl nur darauf, die Besetzer mit Blumen zu empfangen.“

Dabei ist allen mehr oder weniger klar, wie hart ein Leben außerhalb der eigenen vier Wände ist, vor allem für über Achtzigjährige. Ohne Geld und Unterstützung durch Angehörige ist es in diesem Alter schwer, alles Bisherige aufzugeben.

Meine Großmutter ist 84, und das Haus zu verlassen, in dem sie den Großteil ihres Lebens verbracht hat – das ist ein Abschied für immer. Das ist ein Gefühl, gegen das man nicht einfach so ankommt. Auch meine Mama, die ein Vierteljahrhundert jünger ist als meine Oma, will unbedingt nach Hause, obwohl wir gar kein Zuhause mehr haben. Und selbst ich träume manchmal davon, dass wir irgendwann unser Familiennest wieder aufbauen können. Nun: Am 8. Juli wurde Lyman mit Raketen beschossen – neun Menschen starben. Vor rund 500 Tagen war all das noch unvorstellbar. Heute ist es eine weitere Tragödie in unserem Leben.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey.

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stammt aus der Ostukraine und war nach Beginn des Krieges im Donbass 2014 nach Kyjiw gekommen. Am ersten Kriegstag 2022 war er nach Lwiw geflohen, nach 100 Tagen ist er zurück in Kyjiw. Er war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

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