Expertenbericht für den Bundestag: Alltäglicher Antisemitismus nimmt zu

Der vom Bundestag eingesetzte Expertenkreis hat einen neuen Antisemitismusbericht vorgestellt. Wichtig ist, dass echte Konsequenzen gezogen werden.

Dachau steht in hebräischen und lateinischen Buchstaben auf schwarzem Grund

In Israel wurde am Montag der Shoah gedacht, in Deutschland verweist ein neuer Bericht auf zunehmenden Antisemitismus Foto: reuters

BERLIN taz | Nach zwei Jahren Arbeit hat der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus seinen neuen Bericht dem Bundestag übergeben. Ziel war es, interdisziplinäre Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis zum Thema zusammenzutragen und dabei die Perspektiven jüdischer Betroffener einzubeziehen.

Antisemitismus finde sich in allen gesellschaftlichen Gruppen, betonte die Ko-Koordinatorin des Expertenkreises, die Berliner Wissenschaftlerin Juliane Wetzel. Zwar gehe der „klassische Antisemitismus“, der Juden zu viel Einfluss unterstelle, zurück. 2016 hätten sich nur noch rund fünf Prozent der Bevölkerung in Umfragen dazu bekannt. Allerdings verträten rund 40 Prozent einen israelbezogenen Antisemitismus, der die politischen Entscheidungen des Staates Israel per se als jüdisches Handeln kritisiere.

Dieser Aspekt des israelbezogenen Antisemitismus, also etwa die Dämonisierung und Delegitimierung Israels als mehrheitlich jüdischen Staates spielt eine zentrale Rolle in dem Bericht. Mittels einer Umwegkommunikation tritt Israel dabei an die Stelle der Juden, antisemitische Stereotype werden auf den jüdischen Staat übertragen.

Dieser Antizionismus sei „der Brandbeschleuniger des Antisemitismus“, so Grünen-Bundestagsabgeordneter Volker Beck bei der Vorstellung des Berichts. Bei der sogenannten „Mitte“-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem letzten Jahr stimmten beispielsweise 40 Prozent der Befragten der Auffassung zu, dass man bezüglich der israelischen Politik „gut verstehen“ könne, „dass man etwas gegen Juden hat.“

Besessen vom Nahostkonflikt

Mit dieser Aussage werden alle, auch deutsche Juden mit der israelischen Regierung identifiziert und kollektiv für die Handlungen des Staates Israel verantwortlich gemacht. Diese Zahlen würden zeigen, „in welchem geistigen Umfeld Juden ihren Alltag verbringen“, so Beck: Wer so obsessiv und einseitig Israel kritisiere, dem ginge es eigentlich um etwas anderes. „Erstaunlicherweise leben wir in einem Land voller Nahostexperten.“

Auch Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags (Linke), thematisierte das Bedürfnis, Judenhass mit dem Nahostkonflikt zu erklären. Im Bezug auf den Fall des jüdischen Jungen in Berlin-Friedenau, der von muslimischen Mitschülern antisemitisch gemobbt wurde und die Schule verließ, kritisierte sie die Eltern der Schüler. In einem Brief sei der Ruf der Schule in den Vordergrund gestellt worden und der Angriff als „religiös motivierte Auseinandersetzung“ relativiert worden.

Eine Zunahme registrierten die Fachleute und jüdischen Organisationen im alltäglichen Antisemitismus und bei antisemitischer Hetze, vor allem in den sozialen Netzwerken. Das untermauert auch die ebenfalls am Montag präsentierte polizeiliche Kriminalitätsstatistik. Für 2016 wies sie 1.468 Fälle von antisemitischer Hasskriminalität aus, 7,5 Prozent mehr als im Jahr zuvor, darunter viele Hasspostings, hieß es.

Bezüglich der Debatte um muslimischen Antisemitismus warnte der Expertenkreis, andere Formen des Antisemitismus nicht zu vernachlässigen oder zu verharmlosen. „Antisemitismus ist nicht nur der ‚Antisemitismus der Anderen‘, wir müssen um uns alle Erscheinungsformen kümmern“, forderte auch Volker Beck. Laut der Kriminalitätsstatistik des Innenministeriums wird der Großteil der antisemitischen Straftaten tatsächlich von Rechten begangen.

Beleidigungen nehmen zu

Allerdings nennen Juden in einer quantitativen und qualitativen Studie, die vom Unabhängigen Expertenkreis in Auftrag gegeben wurde, überdurchschnittlich oft Muslime als Täter. Nach antisemitischen Erfahrungen in den letzten 12 Monaten gefragt, gingen laut den Einschätzungen der befragten Juden 48 Prozent der versteckten Andeutungen, 62 Prozent der Beleidigungen und 81 Prozent der körperlichen Angriffe von Muslimen aus.

Insgesamt hat die Mehrheit der Befragten im vergangenen Jahr antisemitische Andeutungen erleben müssen, ungefähr ein Drittel wurde auch Opfer von verbalen Beleidigungen und Belästigungen. Antisemitismus ist für Juden in Deutschland somit eine allgegenwärtige und häufige Erfahrung. Die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft nehme Antisemitismus hingegen nicht als aktuelles und relevantes Problem wahr.

70 Prozent der befragten Juden befürchten zudem, dass durch antisemitisch eingestellte Flüchtlinge der Antisemitismus in Deutschland zunehmen werde. Allerdings sagen 84 Prozent der Befragten, dass der Antisemitismus auch ohne Flüchtlinge ein Problem in Deutschland sei. Auch hierzu wurden Studien durch den Expertenkreis in Auftrag gegeben.

Diese zeigen zusammenfassend „ein vergleichsweise hohes Maß an antisemitischen Einstellungen und große Wissenslücken unter Geflüchteten aus arabischen und nordafrikanischen Ländern“, heißt es in dem Bericht. Allerdings habe sich das Israelbild durch den Syrien-Krieg und durch den Arabischen Frühling bei einigen der Befragten gewandelt.

Bericht darf kein leeres Ritual werden

Ansonsten spiele hier insbesondere eine auch antisemitische Rezeption des Nahostkonflikts eine Rolle, aber auch klassisch antisemitische Stereotype und Verschwörungsideologien. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, forderte diesbezüglich in der Welt am Sonntag, antisemitische Einstellungen in den Integrationskursen zu einem zentralen Thema zu machen.

Es sei verständlich, dass man „solche Zerrbilder, die man jahrzehntelang vorgehalten bekam, nicht einfach an der Grenze nach Deutschland vergessen kann“. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoğuz, unterstützte Schusters Vorschlag. „Der Besuch einer Gedenkstätte wäre deshalb eine gute Ergänzung des Integrationskurses, erste positive Erfahrungen gibt es bereits“, sagte sie der Funke-Mediengruppe.

Volker Beck kritisierte zum Abschluss, dass die Forderungen und Empfehlungen des ersten Berichts aus dem Jahr 2012 kaum oder gar nicht umgesetzt wurden. Einziger Erfolg sei die Berufung der zweiten Kommission. „Es darf kein leeres Ritual werden, dass mit viel Ressourcen Berichte erstellt werden, die dann nicht im alltäglichen Kampf gegen Antisemitismus genutzt werden“, forderte er und kritisierte einen „Zustand der organisierten Unverantwortlichkeit“.

Bundesweite Datenbank gefordert

Auch Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, forderte, dass sich die gewonnenen Erkenntnisse auch in tatsächlichem Regierungshandeln widerspiegeln. „Der unkoordinierte Status Quo ist angesichts der Zunahme judenfeindlicher Tendenzen nicht länger akzeptabel“, sagte sie. „Ich möchte nicht länger den Eindruck haben müssen, dass Antisemitismus als Angelegenheit der jüdischen Menschen betrachtet wird.“

Zentrale Forderungen der Expertenkommission sind die Berufung eines beim Bundeskanzleramt angesiedelten Antisemitismusbeauftragten, die konsequente Erfassung und Ahnung antisemitischer Straftaten, die dauerhafte Förderung von Trägern der Antisemitismusprävention, die Schaffung einer ständigen Bund-Länder-Kommission und eine langfristig angelegte Forschungsförderung zum Antisemitismus.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.