Festival Babel Music XP in Marseille: Schluss mit Weltmusik​

Kulturaustausch am Mittelmeer: Das Festival Babel Music XP führt im Melting Pot Marseilles auf musikalischen Erkundungsfahrten durch die Welt.

Die Musikerin hält rechts einen Trommelschlegel, vor ihr auf dem Tisch diverse elektronische Instrumente

Türmt mit allerlei traditionellen Perkussions­instrumenten Drums und Bässe übereinander: die Portugiesin Ana Lua Caiano Foto: Jean de Pena

Die provenzalische Hafenstadt Marseille, ein Quell der Ambiguitäten: Flanierende Millionäre, die sich in Schale geworfen haben, statten sich auf Einkaufsstraßen mit den aktuellen Taschen von Louis Vuitton aus. Dort treffen sie auf Abgehängte, die – im besten Fall – in den Sozialwohnungen ihre Heimstatt haben.

Hunderte solcher Wohnungen sind zu einem weiß-strahlenden Block in betörendem (post-)modernen Design verpackt, während innen die Wartung seit Jahrzehnten stiefmütterlich behandelt wird. Die Folge solcher Vernachlässigung sind über 300 teils imposante Gebäude in ganz Marseille, die als „potenziell einsturzgefährdet“ eingestuft sind. Viele dieser architektonischen Hingucker befinden sich im Viertel La Joliette, das in seinem Herzen einen besonderen Kulturort trägt: Die Docks-des-Suds.

Als La Joliette noch ein Hafenviertel war, da war die heutige Konzerthalle ein Zuckerkontor, von dem Südsee-Zucker aus dem Indischen Ozean raffiniert und in Westeuropa verteilt wurde. Heute spielen hier Bands auf drei Bühnen, zum Beispiel während des Festivals Babel Music XP. Festivalchef Olivier Rey vergleicht sein Ziehkind – er ist seit über zehn Jahren dabei und war früher Pressesprecher – gerne mit dem Veranstaltungsort: „So wie früher der Zucker, kommt heute Musik aus der ganzen Welt bei uns an – und findet dann seinen Weg in den Rest Frankreichs, nach Europa und die USA.“

Dafür nutze man, sagt Rey, die besondere Lage und die Geschichte Marseilles – der „unfranzösischsten Stadt in Frankreich“, wie er betont. Marseille ist zwar nicht die einzige Stadt am Mittelmeer, die einem wildwüchsigen Melting Pot gleicht, die durch Jahrtausende der Besiedlungsgeschichte durch allerlei Völkchen geprägt ist; doch nirgends treffen maurische Tradition und mediterranes Franzosentum, okzitanische Separation und moderner Metropolismus, post-koloniale Realismen und notorischer Größenwahn so ungebremst aufeinander. Der große Hafen, hunderte Synagogen und die heutzutage vor allem arabisch geprägten Straßen: Selbst wenn Marseille es nicht wollte, wäre es eines dieser „Tore zur Welt“.

Das Tor zur Welt

Das Motiv des Tors zitiert Oliver Rey sehr gerne, denn im Arabischen heißt das Tor „El Bab“. Und aus „El Bab“ wurde „Babel“. Im Hinterkopf steckt das biblische Babylon mit seinem Sprachgewirr und der Menschheit, die in alle Richtungen verteilt wurde. Doch auch die arabische Deutung betont man.

Das Festival ruht auf drei Säulen: Da sind einerseits die Musikmesse (der Zusatz XP steht für Expo) und die Konferenz. Es sind branchenübliche Plätze zum Austausch. Diese beiden Säulen seien für „die Musikindustrie“ und stellten die „ökonomisch-wirtschaftliche Seite“ dar, sagt Rey. Dafür seien diesmal mit 1.800 Delegierten sogar 300 mehr angereist als letztes Jahr.

„Ein Erfolg, dass wir im zweiten Jahr seit dem Reboot schon größer werden“, erklärt der Festivalchef, der auch andere Zeiten erlebt hat. Denn das heutige Babel Music XP gab es bereits bis 2016 als „Babel Med Music – Forum Musiques du Monde“, dieses geriet dann wiederum in Schwierigkeiten, pausierte und wurde schlussendlich 2023 neu aufgestellt. Man verzichtete im selben Atemzug auf den Untertitel, denn „Weltmusiker wolle und müsse heute keiner mehr sein“.

Das Label „Weltmusik“ besaß einst ein emanzipatives Moment („In den 80er fand man hier die spannendsten Platten“, sagt Rey), wird heute aber von vielen Mu­si­ke­r*in­nen als pejorativ und erniedrigend empfunden. Aber kommen wir zurück zu den Säulen, denn es gibt noch eine dritte – sie ist die spannendste: Es ist das Showcase-Festival mit neun bis zwölf Acts pro Abend, das auch die Marseillaiser anziehen soll.

Diese nehmen das Festival auch an, das Publikum ist zwischen 16 und 66, einige in tribalistischer Verkleidung, andere in der Klamotte der Straße mit Sneaks, Jogginghose und Hoodie. Breit gefächert nennt man sowas. Door­opener ist dabei der vergleichbar geringe Eintrittspreis mit 20 Euro pro Abend. Nicht alle kommen für die Musik, das ist normal bei einem solchen Event, doch die drei Bühnen laden zum Reinschnuppern ein.

Kulturaustausch seit über 3.000 Jahren

Am ersten Abend läuft es trotzdem etwas schleppend. Dabei ist die musikalische Qualität durchgängig sehr hoch. Am Gründonnerstag spielen neben Marseille noch andere mediterrane Städte eine große Rolle. Aus Neapel kommt das Trio Suonno D’Ajere, das die uralte Liedkultur der Stadt am Vesuv und den eigenen Dialekt Napulitano zelebriert. Begleitet von Gitarre und Mandoline, singt sich Irene Scarpato in eine elegante Intimität.

Was man fast für Bel Canto halten könnte, bleibt aber stets volkstümlich – vor allen Dingen in seinen Skalen. Was hüben wie ein Candlelight klingt, wird drüben, in der Hand der Franco-Griechin Dafné Kritharas in voluminöse Gravitas übersetzt – doch: In den Harmonienfolgen, den eingesetzten Tonleitern, sind sich die präsentierten Traditionen Griechenlands und Süditaliens sehr nah. Das Mittelmeer war eben Raum des Austausches – auch wenn der Seegang oftmals straff ist.

Der Kulturaustausch, der hier seit über 3.000 Jahren belegt ist, ging und geht nicht spurlos aneinander vorüber. Ganz passend, dass das aktuelle Buch des Kultur- und Psychoanalytikers Klaus Theweleit „aeiou“ zur Reiselektüre des Autors gehörte, verfrachtet Theweleit gar die Erfindung unseres Vokalalphabets auf das Mittelmeer. Denn auf der See, so heißt es da paraphrasiert, spricht man nicht, da singt man ohnehin.

Die Sounds des Festivals basieren zumindest 2024 immer wieder auf Hybridisierungen und Kreolisierungen: Alt trifft dann Neu, Italien trifft auf Griechenland. Oder, wie im Fall der Gruppe PoiL Ueda: Französische Progrocker gehen Hand in Hand mit einer japanischen Biwa-Spielerin. Das Ergebnis changiert zwischen der verkopften Zartheit des Math-Rocks, dem Schamanisch-Rituellen der zitierten buddhistischen Mönchsgesänge – und etwas vulgärem Losgeschrammel.

Bass-Lines brummen grimmig

Die 1999 geborene Ana Lua Caiano aus Portugal beschäftigt sich zwar auch mit Tradition, doch bei ihr sind die Synthetisierungen auch technischer Natur. Caiano spielt auf allerlei traditionellen Perkussionsinstrumenten – etwa aus Madeira –, nennt als Inspirationsquellen hingegen die Trip-Hopper von Portishead und die Avant-Popperin Björk.

Das Ergebnis ist sensationell: In immer neuen Schichten werden Drums und Beats aufgetürmt, Bass-Lines brummen grimmig dahin, die Stimme der jazz-studierten Caiano ist wütend, kämpferisch, voranschreitend. Sie singt allein im Kanon, harmonisiert über die Loop-Funktion mit sich selbst. Wie sie portugiesisch-rurale Volkslieder als Wegmarken nutzt, erinnert bisweilen an die Flamenco-Revolution, die der heutige Superstar Rosalía losgetreten hat. Bemerkenswert: Caiano zitiert nicht den bekannten Fado, sondern beschäftigt sich mit ausschließlich oral-tradierten Gesängen aus den letzten 200 Jahren.

Damit sticht die junge Portugiesin unter vielen guten Acts heraus – zu gefallen wissen auch die syrischen Postpunk-Bands und marokkanischen FLINTA*-Rap-Duos. Relativ schnörkellos und ohne Piefigkeit kann man auf dem Babel kulturelle Erkundungsfahrten durch die Welt machen. Doch es könnte die letzte Ausgabe hier im alten Zuckerkontor gewesen sein, denn Staatspräsident Macron persönlich will an die Stelle des alten Docks-des-Suds eine Filmhochschule bauen lassen. Festivalchef Oliver Rey bleibt optimistisch: „Wir werden dann halt einen anderen Ort finden, der Marseille emblematisch repräsentiert.“

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