Filmfestival „achtung berlin“ wird 20: Made in Berlin (und Brandenburg)

Seit 20 Jahren bringt das Festival „achtung berlin“ Produktionen aus der Hauptstadtregion auf die Leinwand. Alternative Lebensentwürfe sind im Fokus.

Drei Menschen sitzen aufm Dach in der Liebigstraße in Berlin-Friedrichshain: eine Szene aus dem Dokumentarfilm „Berlin Untopiekadaver“

Aufm Dach in der Liebigstraße in Berlin-Friedrichshain: eine Szene aus dem Dokumentarfilm „Berlin Untopiekadaver“ Foto: achtung berlin

BERLIN taz | Was für eine gute Wahl. „Berlin Utopiekadaver“ von Johannes Blume ist eine von 12 Produktionen, die im Dokumentarfilm-Wettbewerb bei der diesjährigen Ausgabe des „achtung berlin Filmfestival“ laufen, das am Mittwoch beginnt – es findet diesen April zum 20. Mal statt. Gäbe es eine taz-Jury, wäre dem Film wohl ein Preis gewiss.

„Berlin Utopiekadaver“ porträtiert die sich auflösende Hausbesetzerszene, die kaum noch Platz findet in der Stadt. Blume steigt mit einer Trauerzeremonie ein, bei der Schilder getragen werden, die im Stile einer Todesanzeige Namen von geräumten Orten – vom Tacheles über die Liebig34 bis hin zum Syndikat – zeigen. Der Film ist eine Art Zeitreise, er zeigt Protestaktionen und Polizeiaufmärsche. Die Kamera war auch bei Räumungen wie der des Køpi-Platzes dabei.

Das Festival mit Filmen aus Berlin oder Brandenburg findet vom 10. bis 17. April zum 20. Mal statt. Vorführungen gibt es in Berlin im Colosseum, Babylon, fsk, City Kino Wedding, ACUDkino, Lichtblick-Kino, Wolf Kino, Il Kino sowie im Filmtheater Union in Fürstenwalde.

Es gibt 12 (abendfüllende) Spielfilme im Wettbewerb – allesamt Berlin-Premieren –, einen Kurzfilm-Wettbewerb und den Wettbewerb für den mittellangen Film. Im Jubiläumsprogramm laufen bis Ende Mai Produktionen aus den letzten 20 Jahren. „Statt leben – Wohnen in Berlin“ ist die Retrospektive überschrieben. P

anels und Talks sowie drei Sektionen runden das Programm ab, so kommen zum Beispiel in der Sektion „Berlin Series“ drei aktuelle Serienproduktionen aus Berlin-Brandenburg auf die große Leinwand. Hier das ganze Programm: achtungberlin.de/2024. (heg)

Johannes Blume lässt seinen vielen, oft stadtbekannten Prot­ago­nis­t:in­nen gebührend Zeit, ihre Geschichte zu erzählen. Das macht sie nahbar. Ihre Motivation, geschützte Freiräume zu schaffen, wird deutlich. Mit dem Tuntenhaus in der Kastanienallee ist auch ein akut von Schließung und Räumung bedrohtes queeres Hausprojekt dabei – wir sehen unter anderem den Be­woh­ne­r:in­nen dabei zu, wie sie ein Frühstück im Innenhof vorbereiten, das allen Bedürftigen offen steht.

Letztlich geht es allen um Kapitalismuskritik, aber die ist ja doch aus der Mode gekommen… „Die Liebig war eine Utopie“, sagt eine Protagonistin. Da ist Resignation zu spüren, aber auch ein Unglaube angesichts der Entwicklung der vergangenen Jahre: „Die Stadt hat sich total verändert“, sagt ein anderer Protagonist, die Gentrifizierung kritisierend. „Es herrscht eine repressive Stimmung.“

„Das sympathischste Filmfest Berlins“

„Berlin Utopiekadaver“ – eine Koproduktion der Berliner Filmproduktion „Filmgalerie 451“ mit dem ZDF – ist also ein gutes Beispiel für den Anspruch von „achtung berlin“, dem Filmfestival für junges deutsches Kino aus Berlin und Brandenburg, das Programm mit ambitionierten Produktionen zu bestücken.

Filmwissenschaftlerin Regina Kräh, die zusammen mit Sebastian Brose das Festival leitet, beschreibt das Festival auf Nachfrage so: „Es ist das sympathischste und größte deutschsprachige Filmfest Berlins“ und fügt hinzu: „Wir sind eine Art Leistungsschau des deutschen Kinos, das auch international geprägt ist.“ Filme müssen eines von drei Kriterien erfüllen, so Kräh, die seit zehn Jahren beim Filmfestival dabei ist: „Entweder ist die Regisseurin/der Regisseur wohnhaft in Berlin, die Produktion oder Co-Produktion ist in Berlin ansässig – oder die Region ist der Drehort.“

Co-Festivalleiter Sebastian Brose ist von Anfang dabei. Es ist über 20 Jahren her, als er zusammen mit seinem „Kompagnon“ Hajo Schäfer das Festival aus der Taufe hob. Schäfer hatte zuvor schon für mehrere Filmfestivals gearbeitet und hegte die Idee zum eigenen Festival. Brose, von Hause aus Literaturwissenschaftler, hatte sich mit dem Poesiefestival der „Literaturwerkstatt Berlin“ einen Namen gemacht.

Ein Mann und eine Frau in Großaufnahme: Sebastian Brose und Regina Kräh, beide leiten das Filmfestival achtung berlin

Sebastian Brose und Regina Kräh leiten gemeinsam das Filmfestival „achtung berlin“ Foto: Moritz Hilker

„Es gab nur die Berlinale und die war so international“, erzählt Brose über die Beweggründe von damals, ein eigenes Filmfestival zu gründen. „Und es gab keine Filme aus Berlin oder Brandenburg zu sehen. So ist die Idee für unser Filmfestival entstanden. Wir sahen die Notwendigkeit für ein Schaufenster für Filme aus Berlin und Brandenburg.“ Es vergingen dann noch eineinhalb Jahre mit der Arbeit am Konzept etc., bevor „achtung berlin“ im Jahr 2005 zum ersten Mal über die Bühne ging. „Damals noch im Kino in den Hackeschen Höfen“, wie Brose zurückblickt, „und nur vier Tage lang“ – dafür mit einer Förderung durch den Hauptstadtkulturfonds.

Fast 100 Produktionen im Programm

Das seit dem deutlich gewachsene Festival beginnt am Mittwoch und geht bis zum 17. April. Als Eröffnungsfilm ist im historischen Saal des Kinos Colosseum im Prenzlauer Berg der Wettbewerbsfilm „Milchzähne“ zu sehen. Sophie Bösch erzählt darin von einem isolierten Dorf in nicht allzu ferner Zukunft, in dem Aberglaube und Misstrauen die Gesellschaft beherrschen. Es gibt allein 12 Wettbewerbsfilme in der Kategorie „abendfüllender Spielfilm“, allesamt Berlin-Premieren. Das Programm weist fast 100 Produktionen aus (jubiläumsbedingt sind es gut zwei Dutzend mehr als sonst). Das lockt im Durchschnitt 10.000 Gäste an.

Einen ganz eigenen Blick auf Berlin gewährt das Jubiläums­programm, das Streifen von Filmschaffenden aus aller Welt zeigt, die in Berlin leben. Ein Rahmenprogramm lädt zum Diskutieren ein. Es gibt die Talkreihe „Klappe Auf!“ oder Panels etwa zu den sonst allzu oft vergessenen Filmgewerken Szenen- und Kostümbild unter dem schönen Titel „Ach, das wurde hergestellt?“.

Apropos: Täuscht der Eindruck, dass noch vor ein paar Jahren viel mehr Filme und Serien in Berlin gedreht wurden? Gefühlt alle paar Wochen war irgendeine Straße wegen Dreharbeiten gesperrt – und die An­woh­ne­r:in­nen genervt.

„Corona war sicher eine schwere Zeit auch für die Filmbranche“, sagt Brose. „Aber Berlin und Brandenburg haben in der Vergangenheit ja viel dafür getan, dass die Filmleute hierher kamen. Es gab ja den Hype: die Amerikaner, die in Babelsberg ihre Filme drehten; der Serienboom Ende der 2010er Jahre.“ Aber auch heute werde noch viel gemacht. Bosse erzählt von einer Landkarte Brandenburgs beim Medienboard, „die zeigt, was es dort überhaupt für tolle Drehorte gibt“.

„Auf Augenhöhe mit dem Publikum“

Kräh sagt: „Von diesem Boom hatte unser Festival profitiert.“ Eine Besonderheit ist ihr wichtig: Das Schöne sei, „dass es eher die mittelständischen Unternehmen und Filmschaffenden sind, die das Festival abbildet. Also nicht die großen Player wie auf der Berlinale.“

Selbstverständlich besuchen auch Berlinale-Fans das „achtung berlin“-Festival, sagt Kräh. „Viele von ihnen sagen dann immer, ach wie schön ist das bei euch!“ Denn auf der Berlinale sind „immer alle bussy und haben gar keine Zeit, Filme zu schauen. Das können sie dann bei uns – oder sich mit Kollegen austauschen.“

Das klingt nach einer entspannten Atmosphäre. Und so lautet dann auch ein Werbespruch: „Auf Augenhöhe mit dem Publikum und ohne Absperrgitter!“ Hier gibt es keine Limousinen, die vorfahren mit den Stars. Hier kommen die Filmschaffenden, weil sie ja meist in Berlin leben, oder auch bekannte Schauspieler:innen, einfach mit dem Fahrrad zum Festivalkino, erzählt Kräh. Hier wird genetzwerkt, hier findet mancher neue Film einen Verleih, hier entstehen Kooperationen (etwa mit dem RBB).

Bei uns „läuft das anspruchsvolle Arthouse-Kino“, sagt Sebastian Brose – nur eben mit Bezug zur Region. Ein vergleichbares Festival von der Grundidee her in Köln oder Hamburg wäre deshalb auch nicht vorstellbar. „Da käme vielleicht eine kleine Sektion zusammen, aber nicht so viel, wie in Berlin rumkommen.“ Berlin wäre eben eine filmfreundliche Stadt. „Und natürlich“, sagt Regina Kräh, „profitieren wir vom Filmnachwuchs, der in Berlin und Potsdam an den staatlichen Hochschulen, aber auch den vielen privaten Schauspielschulen ausgebildet wird.“

Und wenn sich die beiden etwas für die Zukunft wünschen könnten? „Volle Kinosäle“, sagt Kräh. „Und, klar, auch eine gesicherte Finanzierung, damit man mittelfristig planen kann“, ergänzt Brose. Dazu muss man wissen, dass das Filmfestival vom Medienboard Berlin-Brandenburg wie viele andere Projekte in Berlin auch immer wieder neu von Jahr zu Jahr gefördert werden.

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