Flüchtlinge: Frau Ismailova wartet

Eine Bombe tötete drei ihrer Kinder und den Ehemann. Sie floh nach Deutschland, stellte einen Asylantrag. Der wird seit sechs Jahren geprüft.

"Mein Bauch - er ist immer voll Schmerz": Madina Ismailova und Sohn Hamsat Bild: Amélie Losier

MÄRZ

In Madina Ismailovas engem Wohnzimmer steht ein riesiger Schrank. Einer aus Eiche, Furnier, um genau zu sein. Mit seinen schweren Türen, den kleinen Fenstern und dem vorstehenden Unterschrank streckt er sich wie eine Festung die Wand entlang. Die soll sie schützen, soll ihr Halt geben. Im weißen Bademantel sitzt Ismailova auf dem Vorsprung des Schrankes. Hinter ihr ist eine Nische, in die andere gern Nippes, Blumenvasen oder Fotos der Lieben stellen. Bei ihr steht nichts, deshalb kann sie da sitzen. So kann sie Blickkontakt halten mit denen auf der anderen Seite. Denn dort stehen Sessel und Sofas in einer Reihe hintereinander. Auf einem liegt Madinas Mutter. Sie ist krank.

"Setzen Sie sich", sagt Madina Ismailova und zeigt auf den Sessel, auf dem ein Gebetskranz aus roten Perlen liegt. Blutrote Perlen sind es. Im Zimmer, in dem sich alle anderen Farben zu einem zartgrauen schlammigen Winterton mischen, wirken die roten Gebetskugeln - so flammend, so anmaßend in ihrer fordernden Farbigkeit - wie ein Schrei.

Über 49.000 Menschen lebten Ende 2006 in Deutschland im Asylverfahren. Mitunter warten sie Jahre auf eine Entscheidung. In dieser Zeit leben sie von abgesenkter Sozialhilfe, ein Haushaltsvorstand bekommt 225 Euro. Der normale Hartz-IV-Satz liegt 35 Prozent höher. Wird der Antrag abgelehnt, und das gilt für die Mehrzahl, müssen sie damit rechnen, abgeschoben zu werden.

Der heutige bundesweite Tag des Flüchtlings steht unter dem Motto: "Flüchtlinge schützen - nicht abschieben". Der Tag wurde 1986 von Pro Asyl ausgerufen und findet jährlich während der "Interkulturellen Woche" in Deutschland statt.

2006 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge über 30.759 Asylanträge entschieden. Nur 1.348 Anträge wurden anerkannt. Das sind 4,4 Prozent. Für Menschen aus der russischen Föderation - Tschetschenen werden nicht gesondert aufgeführt, obwohl sie die Mehrheit bilden - lag die Anerkennungsquote bei 11,8 Prozent. In Österreich liegt sie bei nahezu 100 Prozent.

In Europa sei Asyl immer weniger ein Thema, kritisiert der UNHCR. Stattdessen spreche man fälschlicherweise von Migration, auch dann, wenn von Flüchtlingen die Rede ist. Er fordert, die Staatengemeinschaft müsse sicherstellen, dass Flüchtlinge nicht daran gehindert werden, "jenen internationalen Schutz zu erhalten, den sie benötigen und verdienen".

Gott kann man keine Ratschläge geben. Einen Blick auf die beiden Frauen im zweiten Stock des Hinterhofes zu werfen, kann seine Größe jedoch nicht schmälern. Ein Blick auf die Ältere, die sich langsam aufsetzt. Auf die Jüngere, die auf ihrem Schrankvorsprung sitzt. Müde ist sie, obwohl früher Nachmittag ist. Es verletzt sie nicht, ihre Erschöpfung zu zeigen. Denn die Tschetschenin aus Grosny hat zu starke Beschädigungen erlitten und zu großes Leid gesehen, um einer schlaflosen Nacht wie der letzten noch Persönlichkeit abringen zu wollen.

Vor sechs Jahren ist sie nach Berlin geflüchtet. Seither wartet sie darauf, dass die Gerichte, die über ihren Asylantrag entscheiden, sagen, dass sie bleiben kann. Vor vier Monaten ist auch ihre Mutter aus Grosny gekommen.

Die ist seit Tagen krank, kotzt alles aus, was sie zu sich nimmt. Nach Berlin ist sie erst gekommen, als sie nicht mehr konnte. "Der Mann tot", erklärt die Tochter, der Sohn von russischen Soldaten abgeholt.

Wenn Ismailova das Wort "Soldaten" sagt, kann sie keine Sätze mehr bilden. Auch "Bombe", "Maschinengewehr" und "Keller" stehen allein. In einer Pause, in der nach dem Wort "Soldat" nichts mehr kommt, greift sie nach einem Stapel Papier, der hinter ihr liegt. Sie nimmt die Dokumente, streckt sie in den Raum. "Meine Familie auch tot", sagt sie hart. Da spürt man, dass der Schrank sie nicht schützen kann.

In den Papieren, den ärztlichen Attesten, steht, was Ismailovas früheres Leben ausgelöscht hat. Zur "Vorgeschichte" ist es geronnen.

"Aus ihrer Anamnese", heißt es da, "ist bekannt, dass die Patientin 1997 in Tschetschenien eine schwere psychotraumatische Situation erlebte, als bei einem Bombardement ihre drei Kinder und ihr Ehemann getötet wurden. Zu dieser Zeit war sie im sechsten Monat schwanger. Sie sah mit eigenen Augen zerstörte Häuser, ihren noch lebenden, verletzten Mann und die verstümmelten Leichen ihrer Kinder " Die Worte auf dem Papier sind nüchtern und klar.

Sie selbst drückt, was sie erlebt hat, anders aus. Sie sagt: "In Grosny ist der Winter sehr hart." Und ihre Mutter sagt: "Wenn ich gesund wäre, würde mir Berlin gefallen." Die Wahrheit ist: Die beiden Frauen spüren die Frühlingssonne nicht, die in Berlin durchs Fenster scheint. "Wenn ich Stress habe, setzt mein Herz aus", sagt Ismailova. Aber sie muss leben. Wegen des Jungen. Wegen Hamsat, dem heute neunjährigen Sohn.

Er war ganz ruhig in ihrem Bauch, als die Bomben fielen. Als sie die abgerissenen Glieder der zerfetzten Kleinen - im Traum und in Wirklichkeit - an die richtige Stelle neben die Körper legte wie ein Puzzle. Einmal zusammengesetzt, was dann?

MAI

Madina Ismailova und ihre Mutter sitzen im Büro von Dorothee Bruch. Die Mitarbeiterin von Xenion, dem psychotherapeutischen Beratungszentrum für Verfolgte in Berlin, will wissen, ob Ismailova bereit ist, ihre Geschichte öffentlich zu machen. "Ja", sagt Ismailova.

"Flüchtlinge aus Tschetschenien sind in der Regel schwer traumatisiert", erklärt Bruch. Sie ist entsetzt, dass das Berliner Gericht Ismailova nicht endlich in Frieden leben lässt. Vor kurzem hat Madina Ismailova bei Xenion eine Traumatherapie begonnen. "Wir sind ganz am Anfang", erklärt Bruch, "es wird lange dauern, bis sie ihre Erlebnisse verarbeiten kann."

Zeit, um noch mehr zu sagen, bleibt nicht. Ein schweres Gewitter über Berlin ist vorhergesagt. Ismailova muss aufbrechen, um vorher noch ihren Sohn abzuholen und rechtzeitig zu Hause zu sein.

AUGUST

Madina Ismailova ist krank. "Mein Bauch - er ist immer voll Schmerz", sagt sie. "Zwei Monate mit Schmerz." Der Blinddarm ist ihr entfernt worden, der Arzt war früher russischer Soldat, erzählt sie. Drei Tage nach der Operation wurde sie entlassen. Mit Schmerzen. "Bin ich kein Mensch?", hat sie den Arzt gefragt. Der Schmerz ist geblieben. Gekrümmt sitzt sie auf dem Sofa. Im Juli ist sie 46 geworden.

Vor dem Fenster zum Hinterhof liegen Kornelkirschen auf einer Zeitung. Man muss sie reifen lassen, damit sie weich werden. Die beiden Frauen haben sie im Park gesammelt. Die rote Farbe ist schon dunkel. Je dunkler, desto süßer sind sie. Ismailovas Mutter wird Marmelade daraus kochen. Ihr geht es inzwischen besser. Sie geht am Stock, das Kopftuch trägt sie um ihr Haar gebunden, wie eine russische Bäuerin.

Ismailova hat Atteste von mehreren Ärzten. Alle bestätigen: Sie ist chronisch krank. Sie bekommt Beruhigungsmittel, Schlafmittel, Schmerzmittel.

Im November werden es sieben Jahre, dass sie in Berlin lebt. All die Zeit läuft ihr Asylverfahren. Madina Ismailova wartet. "Bald sieben Jahre denke ich jeden Tag: Jetzt kommt die Polizei und holt mich. Ich habe jeden Tag Angst, dass Polizei kommt. Ich stehe nachts auf und denke, die Polizei kommt. Heute kommt die Polizei zur Nachbarin und dann zu mir."

Für einen Augenblick wirkt die Sprache wie ein Schmerzmittel. Als gäbe sie ihr Kraft. Wenn sie aufhört zu reden, spürt sie die Schmerzen wieder. Da beginnt sie von Neuem: "Manchmal denke ich, ich will mich tot machen." Einmal habe ihr Sohn geweint, weil er verstanden hatte, dass sie nicht mehr leben wollte. "Mama, ich weiß nicht, was ich dann mache allein", hat er gesagt. Sie legt die Hand auf den Bauch. Jede Bewegung tut weh.

Früher war Ismailova Erzieherin. Aber das ist lange her. So lange, dass sie überlegen muss. Die Frage nach der Vergangenheit irritiert sie. Sie ist in der Gegenwart und endlich einmal ins Reden gekommen: "Warum muss ich alle sechs Monate zur Behörde? Mein Sohn fragt: Mama, warum haben wir keinen deutschen Pass? In der Schule haben alle Kinder deutschen Pass. Türkische Kinder, arabische Kinder, sagt er." Sie fragt: "Warum gibt man mir nicht ein oder zwei Jahre, damit der Stress aufhört?"

Ismailova ist ins Klagen gekommen. Wo vorher nur einzelne Worte waren, sind nun Sätze, Vergleiche, Erfahrungen: "Mein Bruder hat viereinhalb Jahre in Hamburg gelebt. Jetzt haben die Behörden ihn deportiert. Er ist jetzt in Inguschetien. Er soll nach Tschetschenien. Soldaten. Jeden Tag ist er in andere Wohnung. Keller. Er ist mit Frau und zwei Kinder. Mein Bruder hat keine Chance. Er wurde schon mit Messer attackiert. Ich weiß nicht, warum Deutschland ihn zurückgegeben hat."

Die Mutter kommt ins Zimmer. Ihr Besuch ist beendet, sie muss zurück ins Asylbewerberheim, wo sie untergekommen ist. Sie erinnert Ismailova daran, dass sie aufbrechen muss. Die steht auf, zieht sich an. Sehr gerade und sehr langsam gehen die beiden aus dem Haus.

SEPTEMBER

Hamsat ist zu Hause. Der neunjährige Sohn. Er soll beim Übersetzen helfen, wenn seine Mutter ihre Geschichte erzählt. "Warum sind die Soldaten gekommen?", fragt der Junge sie, als sie über das spricht, was vor zehn Jahren passiert ist. "Warum haben sie den Onkel geholt?"

Aber Hamsat hält es nicht aus, dass seine Mutter von Dingen berichtet, die er nicht begreifen kann. Immer wieder verschwindet er in die Küche. Zurück bleibt man mit Ismailovas Halbsätzen. Den verschwundenen Männern. Den Bomben. Den zerfetzten Körpern der Kinder. Dem Mann, der zuerst noch lebte und kurz darauf doch erschossen wurde.

"Die Nachbarin sagte: Dein Mann tot", erzählt Ismailova und ruft nach Hamsat. Sie muss ihn jetzt bei sich haben. Sie ahnt, dass sonst Fragen kommen, die sie kaum erträgt. Wie die nach den Kindern. Wie alt waren sie?

Ismailova nimmt einen Zettel und schreibt mit zittriger Hand 1990, 1992, 1993 darauf. Es sind die Geburtsjahre ihrer verstorbenen Kinder. Die Zahlen verhindern, dass man sich die toten Kinder vorstellen muss. Oder die lebenden. Das Vierjährige, Fünfjährige, Siebenjährige, Zerfetzte.

Hamsat, der 1998 geboren wurde, kommt wieder ins Zimmer. Seine Mutter bittet ihn, seinen Arm zu zeigen. Er ist am Ellbogen schief zusammengewachsen und ganz vernarbt. Bei einer Bombardierung im Jahr 2000 wurde der Junge verletzt, da war er zwei. So steht es auch in dem Papier, in dem Ismailovas Erfahrungen als "Vorgeschichte" notiert sind.

Sie sagt nur "Bomben" und macht mit ihren Händen ein Zeichen, als handele es sich um ein Feuerwerk. Eins aus Splittern. "Ich sehe an Hamsats Arm Blut", sagt sie. Sie will Hilfe holen. Die russischen Soldaten schicken sie zurück in den Keller. Sagen: "Egal, ob er stirbt." Jemand schient Hamsats Arm mit einer Holzlatte.

"Warum Bomben?", fragt Hamsat. Ismailova zuckt mit den Schultern.

Dann sagt sie: "Ich frage nicht, wie es jetzt in Grosny ist." Sie habe dort nur im Keller gesessen. "Im Keller und nichts." Zurück an den Ort will sie nicht. Kann sie nicht. "Ich habe die Kinder verloren. Den Mann verloren. Mein Alles ist tot." Und nach einer Pause: "Ich denke jetzt nur an Hamsat."

Auf einem Regalbrett im Eichenfurnierschrank steht eine Karte. "Liebe Mama, ich habe Dich ganz doll lieb. Für mich ist es besser, wenn Du glücklich bist." Die Karte ist mit roten Herzchen und rosa Sternen verziert.

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