Französische Literatin im Theater: Vom Wühlen im Abgrund der Familie

Mit der Dramatisierung von Delphine de Vigans „Nichts widersetzt sich der Nacht“ beseitigt das Deutsche Theater Göttingen einen Missgriff der Übersetzung.

Drei Frauen sitzen vor Plastiken auf einer Bühne

Jenny Weichert, Angelika Fornell und Tara Helena Weiß inmitten der Plastiken de Vigans Foto: Isabell Winarsch/DTG

Es gilt als uncool, noch als Erwachsener damit zu hadern, dass Eltern, Familie, Erziehung verantwortlich dafür seien, warum man kein Standbein ins Leben bekommt. Für cool wird hingegen gehalten, die rumorende Ausformulierung der eigenen Persönlichkeit nicht einfach nur erduldet, sondern im Sinne der existenzphilosophischen Freiheit selbst kreiert zu haben.

Dass es so einfach leider nicht sei, Erlebnisse der Kindheit und Jugend seelische Verheerungen anrichten können, die nicht fix mal wegzutherapieren seien, das behauptet Delphine de Vigan in ihren Büchern, ja, es scheint geradezu der Anlass für ihr Schreiben zu sein. Die französische Literatin spricht von einem Fluch, der auf ihrer Familie laste, in der sich tragische Todesfälle sowie Suizide häufen. Und sie sucht Gründe, warum ihre alleinerziehende Mutter Lucile dem Alltag nicht gewachsen war, sich zunehmend verunsichert und verängstigt abgrenzte, mit Alkohol und Marihuana, später mit Psychopharmaka betäubte und sich schließlich das Leben nahm.

Wie die in Schuldfragen verstrickten Hinterbliebenen damit umgehen, das untersucht die Autorin in ihrem virtuosen Spiel mit Autobiografie, Autofiktion und Erzählung ebenso wie die Überforderungen der Mutter sowie die Folgen für viel zu früh auf sich allein gestellte Kinder – und zieht beispielsweise eine Verbindung zu ihrer Magersucht. „Rien ne s’oppose à la nuit“ ist das 2011 erschienene Buch betitelt. Für die deutsche Ausgabe prangt auf dem Cover „Das Lächeln meiner Mutter“. Diesen Übersetzungsmissgriff korrigiert nun das Deutsche Theater Göttingen und bringt die Dramatisierung als „Nichts widersetzt sich der Nacht“ heraus. Gemeint ist die psychische Verfinsterung durch eine manisch-depressive Erkrankung.

Da es um eine geradezu archäologische Erkundung des Lebens der Mutter anhand hinterlassener Notizen, Briefe, Tagebucheinträge, Fotos geht und dabei die Abgründe der Familiengeschichte als geradezu antiker Mythos erscheinen, kommt die deutschsprachige Erstaufführung nicht im Theater, sondern an der Universität Göttingen im Archäologischen Institut heraus.

„Nichts widersetzt sich der Nacht“: wieder am 16. und 17. 6. sowie 1., 4. und 6. 7., immer um 21 Uhr im Archäologischen Institut, Nikolausberger Weg 15, Göttingen

Das residiert in der hübsch antiquierten Atmosphäre eines mehr als 100 Jahre alten Seminargebäudes. Außergewöhnlich beeindruckend: In elf Sälen drängeln sich gipsweiße Abgüsse hellenischer und römischer Torsi, Ganzkörperskulpturen und Friese in Originalgröße, mehr als 2.000 Exemplare sind seit 1765 für Lehre, Forschung und museale Betrachtung angeschafft worden.

Nun flanieren Thea­ter­be­su­che­r:in­nen durchs Treppenhaus und werden von Schauspielerin Angelika Fornell in Empfang genommen. Als Ausstellungsführerin erklärt sie anhand der Silikonabgussform einer Athene-Statue, wie Gipsabbilder entstehen. Beim Verweis auf die Blaufärbung des Silikons wechselt die Vortragende ihre Rolle. Schluss mit dem Alltagsplaudertonfall, kunstvoll wird nun mit unsentimentaler Eleganz prononciert: „Meine Mutter war blau, blassblau mit Aschetönen, die Hände seltsamerweise dunkler als das Gesicht, als ich sie an jenem Januarmorgen in ihrer Wohnung fand. Die Beugen ihrer Fingerknöchel sahen aus, als seien sie voller Tintenflecken. Meine Mutter war schon seit mehreren Tagen tot.“

Fornell ist jetzt die Autorin am Ausgangspunkt einer umfangreichen Recherche und wechselt fortan mit den Kolleginnen Jenny Weichert und Tara Helena Weiß, alle in gipsweißen Kostümen, ständig die Erzählhaltung. Sie lesen schriftliche Fundstücke de Vigans vor, die aus Karteikästen und Büchern purzeln, und rezitieren Gedichte, mit Baudelaire und weiteren begnadeten Untergehern einer späten Romantik hatte Lucile sich verschwistert.

Wunderbar pointierte Inszenierung

Vermutungen über die Bruchlinie ihrer Biografie werden ausführlich erläutert, etwa dass sie selbst notiert hat, mit 16 vom Vater vergewaltigt worden zu sein. Hinzu kommen die Haltlosigkeit ihrer Hippie-Großfamilie, der Tod dreier Brüder, scheiternde Liebesgeschichten, frühe Schwangerschaft, Lungenkrebsdiagnose …, ergänzt werden Erinnerungen, Analysen, Vermutungen und Selbstreflexionen der Autorin.

Das Darstellerinnentrio lauscht auch Zitaten aus de Vigans Interviews mit Verwandten und entwickelt aus dem lebendig verknoteten Miteinander immer wieder Ausflüge ins Rollenspiel, repräsentiert dabei unterschiedliche Persönlichkeitsaspekte Luciles und verkörpert Familienmitglieder.

Als diese werden auch die stummen Zeugen des Gipspanoptikums gern mal ausgeleuchtet und angespielt. Zusätzlich setzt Regisseurin Schirin Khodadadian auf symbolische Szenen-Miniaturen: Eben wurde das Publikum noch darauf hingewiesen, dass es das Allerschlimmste sei, wenn ein Sammlungsobjekt beschädigt werde, nun transportieren die Spielerinnen eine Gipsfigur durch die Säle, schreien plötzlich auf und verweisen auf Gipsbrösel am Boden. Ein Missgeschick? Ein Unfall? Nein, das Bild für die gerade beschriebene Katastrophe: Ein Bruder Luciles ist ertrunken.

Die Inszenierung will mit all dem Leid beim Publikum vor allem Sympathie für Lucile wecken, als Hommage an sie versteht de Vigan auch ihr Buch. Geht es um Versöhnung dank geschönter Erinnerungen? Jedenfalls werden Luciles Erfolge gefeiert als Modell und die wilde Unkonventionalität, das Rebellentum sowie ihr literarisches Talent bewundert. Wie eine Statue sitzt eine Lucile-Darstellerin bald verloren auf einem Podest – am Ende wird an ihrer statt eine strahlend bunte „Artemis von Pompeji“-Replik hereingeschoben.

So wie dort die Bemalung des vor über 2.000 Jahren in Marmor gehauenen Originals auf einem Mix aus wissenschaftlicher Rekonstruktion und Fantasie beruht, wird an diesem Abend aus Wunsch und Wirklichkeit ein Bild Luciles entworfen. Sie soll nicht zerbrochen, nicht mehr zerbrechlich, sondern wieder wunderschön sein. Eine Fiktion – als Trost gegen den Schmerz und die Sprachlosigkeit. Ein Selbsttherapievorschlag für Betroffene. So faszinierend der Text – so wunderbar pointiert die Inszenierung.

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