Geflüchtete in der Westukraine: Neu im eigenen Land

Russland bombardiert den Westen der Ukraine, der zuletzt sicher war. Fliehen jetzt wieder mehr Menschen nach Westeuropa? Die meisten wollen bleiben.

Zwei Frauen und ein Soldat stehen in einem Raum, umgeben von geöffneten Pappkartons

Sich neu sortieren: Im Zentrum für Hilfsgüter in Luzk Foto: Hesther Ng/Zuma Wire/imago

LUZK taz | Luzk im Nordwesten der Ukraine ist eine Stadt, in der überwiegend Ukrainisch gesprochen wird. Doch immer häufiger hört man jetzt auch Russisch, sei es im Supermarkt, auf dem Markt, an einem Fahrradständer oder einer Trinkwassersammelstelle.

Es sind die Geflüchteten aus dem Osten, die Russisch mitgebracht haben. Niemand würde behaupten, dass sich hier alle darüber freuen würden, die Sprache des Aggressors zu hören. Doch zu Konflikten kommt es nicht. Zwar steht die Stadt vor großen Herausforderungen, um Tausende Geflüchtete unterzubringen. Doch diese Menschen sind auch Arbeitskräfte, die Luzk und die an Polen grenzende Region Wolhynien dringend brauchen.

Auch der Westen der Ukraine ist von der neuen russischen Offensive betroffen. In der Stadt Lwiw schlugen mehrmals Raketen ein. In Luzk, 150 Kilometer nordöstlich von Lwiw, und in anderen Orten der Region herrscht ständiger Luftalarm.

Der 20-jährige Dmitri Schkrob* trägt einen Bürostuhl in den Eingang eines mehrstöckigen Wohnhauses. Der Stuhl ist die erste größere Anschaffung an seinem neuen Wohnort. Am Vortag hat er sein erstes Gehalt in einer Produktionsfirma von Fahrzeugkabeln erhalten. Nach dem Ausbruch des Kriegs hat sein jetziger Arbeitgeber den Betrieb für einige Tage eingestellt. Seit er das Problem mit dem Luftschutzbunker gelöst hat, arbeitet der Betrieb wieder mit voller Kraft.

„Ich bin mit meiner Mutter und meinem Bruder nach Luzk geflohen, als unser Heimatgebiet schon besetzt war. Von der Region Cherson über Saporischschja bis hierher haben wir zwei Wochen gebraucht. Schon als wir noch im Zug saßen, hat meine Mutter begonnen, Arbeit zu suchen.“ Um Geld betteln oder von staatlicher Hilfe abhängig sein, das wollten sie nicht. „Die paar Tausend Griwna, die Geflüchteten gezahlt werden, reichen ja nicht einmal, um für drei Leute Lebensmittel zu kaufen“, sagt Dmitri.

Warum nicht Europa?

Dmitri und sein Bruder sprechen gut Ukrainisch, ihrer Mutter fiel der Übergang schwerer. Untereinander reden sie Russisch, aber in dem halben Jahr, das sie jetzt hier in Luzk sind, hätten sie von den Einheimischen noch nie despektierliche Bemerkungen gehört, so Dmitri. Er erzählt von den wenigen Wochen unter russischer Besatzung und von seinem Großvater, der wegen „Haus und Hof“ geblieben sei. Gedanken, ins Ausland zu fliehen habe seine Familie nie gehabt.

Ausharren, solange es geht

Seit dem Beginn des Krieges war Luzk ein Knotenpunkt, über den die Ukrai­ne­r*in­nen in die Europäische Union reisten. Aus dem Süden oder Osten machten sie sich in den Westen des Landes auf und versuchten, hier einige Tage durchzuatmen oder einfach nur auszuschlafen. Dann fuhren sie weiter. Jetzt gibt es einige Faktoren, die sie von diesem Schritt abhalten.

„Im Ausland kennen wir niemanden. Und wir werden ziemlich blöd dastehen. Denn in unserem Dorf im Gebiet Cherson war es schwierig, eine Fremdsprache gut zu lernen. In Luzk haben wir schnell eine Wohnung gefunden, ich und meine Mutter haben eine Arbeit bekommen, und mein Bruder geht in die Schule. Warum sollten wir jetzt irgendwo anders hingehen?“, sagt Dmitri.

So denkt auch seine Kollegin Irina, die im selben Betrieb arbeitet. Sie stammt aus Charkiw und lebt jetzt mit ihrem Mann und zwei Kindern in einer kleinen Stadt rund 50 Kilometer von Luzk entfernt. Jeden Tag bringt ein Bus der Fabrik Irina zur Arbeit. Zu Hause bleibt nur noch Zeit, um Essen zu kochen und zu schlafen. Ihr Mann wurde, bereits an ihrem neuen Wohnort, eingezogen.

Irina sagt, sie hätten sich absichtlich dafür entschieden, nicht in einer großen Stadt zu leben – dort koste das Leben mehr und es sei schwieriger, eine Wohnung zu finden. „Wir haben von einer Flucht nach Europa Abstand genommen, als wir Geschichten gehört haben, wie schwierig es ist, sich registrieren zu lassen und eine Unterkunft zu bekommen.“

Zwar seien die Deutschen und Tschechen sehr freundlich und hilfsbereit. „Aber wir haben beschlossen, in der Ukraine bis zum letzten Moment auszuharren. Im Ausland gibt es doch so viel Unbekanntes. Die Bedingungen hier und die Schönheit der Westukraine … im Vergleich mit unserem bombardierten Charkiw fühlt sich das hier wie das echte Europa an“, sagt Irina.

Ella Libanowa, Direktorin des Instituts für Demografie und Sozialforschung (IDSS) in Kyjiw, sagt, dass rund 9 Millionen Ukrai­ne­r*in­nen ihr Land verlassen hätten – Menschen, die vor dem Krieg geflüchtet seien, oder sich im Ausland ein neues Leben aufbauen wollten. Männern zwischen 18 und 60 Jahren ist die Ausreise während des Kriegs untersagt.

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„Vor allem Be­woh­ne­r*in­nen aus Großstädten wie Kyjiw und Charkiw sind ins Ausland gereist. Menschen aus kleineren Städten sind in die Westukraine gegangen. Das ist vielleicht die einzige positive Folge dieser Katastrophe. Wären die jungen Leute aus dem Donbass früher einmal nach Lwiw und Luzk gefahren und ihre Al­ters­ge­nos­s*in­nen aus Transkarpatien nach Tschernihiw und Luhansk, hätten sich der Osten und der Westen der Ukraine besser kennen gelernt“, sagt Libanowa.

Die meisten Industriebetriebe in Luzk leiden massiv unter dem Krieg. Da sind nicht nur Unsicherheit und die Angst vor russischen Raketenangriffen, sondern auch die Abwanderung von Arbeitskräften ins europäische Ausland. Viele Männer im wehrfähigen Alter sind in der Armee, einige von ihnen sind im Krieg umgekommen.

Durchschnittseinkommen: 230 Euro

Der Mangel an Männern, die arbeiten können, ist in der Region Wolhynien vor allem auf dem Land spürbar. Bauern waren gezwungen, Erntehelfern 40 bis 60 Prozent mehr Lohn zu zahlen, damit sie diesen Job annehmen.

Anna Stachornaja ist aus der russisch besetzten Stadt Enerhodar in den Ort Kowel im Gebiet Wolhynien gekommen – sie musste sich beruflich neu orientieren. In ihrer Heimatstadt war sie in der Verwaltung eines medizinischen Betriebs tätig. Nach ihrem Umzug musste sie den Umgang mit einer Strickmaschine lernen, um Arbeit in einer Näherei zu bekommen.

Das sei typisch, heißt es dazu aus dem zuständigen Arbeitsamt. Derzeit sind in der Region Wolhynien, einer der kleinsten der Ukraine, 1.500 Stellen vakant. Gesucht werden vor allem Arbeitskräfte im Handel und im Dienstleistungsbereich sowie für technische Anlagen und Maschinen.

Ein Problem: Das Durchschnittseinkommen liegt monatlich bei umgerechnet 230 Euro. Deshalb gehen die am besten qualifizierten Menschen auch weiterhin ins Ausland. Libanowa glaubt, dass die ukrainischen Ar­beits­mi­gran­t*in­nen nur nach Hause zurückkehren, wenn sie dort nicht weniger verdienen als im Ausland. Angaben des IDSS zufolge lebten und arbeiteten vor Beginn des Krieges zwei bis drei Millionen Ukrai­ne­r*in­nen im Ausland.

„Mit der Rückkehr aller ist nicht zu rechnen, aber wenn mindestens eineinhalb Millionen kommen, ist das schon ein hervorragendes Ergebnis für unser Land“, sagt Libanowa. „Wir müssen eng mit den Emigranten in Kontakt bleiben, damit sich die Menschen als Ukrai­ne­r*in­nen und nicht vergessen fühlen.“

* Name geändert, da seine Verwandten in den besetzten Gebieten leben, und nicht gefährdet werden sollen

Aus dem Russischen von Barbara Oertel

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