Hauntology-Pop-Compilation: Unheimlich gruselt BRD-Noir

Auf der Compilation „Gespensterland“ sind Musikerinnen und Musiker einer deutschen Undergroundszene vertreten, die das Geisterhafte in Songs abbilden.

Das Duo Brannten Schnüre sitzt in einer "Winterdienst"-Kiste der Straßenmeisterei

Leistet Winterdienst: Das Hauntology-Duo Brannten Schnüre Foto: Privat

„Ich bleib heut lieber hier / Komm nicht mit zum Rave“, was sich wie eine Textzeile von Domiziana und anderen Zeit­ge­nos­sIn­nen der bundesdeutschen TikTok-Szene liest, wird beim Duo Brannten Schnüre musikalisch im verstörend-leiernden Gewand der Goldenen Zwanziger und mit Varietésound serviert.

Der Sample von „Ich versäum’ doch nichts“, einer anderthalbminütigen Preziose auf der Compilation „Gespensterland“, klingt vordergründig nach Heimatfilm, Wirtschaftswunder und Bubi Scholz – es ist aber Musik aus der Gegenwart.

Diese Art der unheimlichen Geisterklänge hat seit einigen Jahren eine zunehmende Relevanz in einer Undergroundkultur gewonnen, die sich von den USA über England nach Kontinentaleuropa erstreckt, darüber in Deutschland – genauer in Unterfranken – eine höchsteigene Inkarnation erfuhr. Mittelpunkt dieser Spukszene, die man vielleicht Haunted Postpunk nennt, ist das bereits genannte Duo Brannten Schnüre, das aus Christian Schoppik und Katie Rich besteht.

Für den Psychoanalytiker Sigmund Freud liegt der Kern des Unheimlichen im Altbekannten und Längstvertrauten. Was wir kennen, aber nicht zuordnen können, das macht am meisten Angst. Auf „Gespensterland“ lauern in 15 bisher unveröffentlichten Liedern unheimliche Wesen und Weisen an allen Ecken und Enden. Neben Brannten Schnüre tauchen Szenefreunde auf, zum Beispiel ein nekro­man­tischer Essener, der als Kirschstein firmiert.

Verschiedene Künstler:Innen: „Gespensterland“ (Bureau B/Indigo)

So wenig man von dem Projekt Kirschstein weiß, außer dass der Grusel im Jahr 2003 aus der Taufe gehoben wurde, so zuverlässig groovend sind die fünf Tracks – die Beats können eine gewisse Vorliebe für Krautrock und NdW nicht verhehlen.

Zwischen Hexen und Werwölfen

Doch zurück nach Unterfranken, dem wahren Gespensterland, wo alles begann: Von dort rollten Christian Schoppik und Katie Rich den internationalen Markt auf, landeten in Belgien, Österreich und sogar beim kultigen englischen Mailorderversand Low Company. Die einen schätzen den Dark-Folk-Ansatz, andere die mystisch-okkulten Soundkulissen, Dritte feiern das schaurige Vergnügen der Musik, die sich im unheimlichen Potenzial deutscher Romantik suhlt.

Auf der Textebene ähnelt das oft E.T.A. Hoffmann oder frühen Übersetzungen Edgar Allen Poes, dem deutschen Schauerroman, der mitunter in den mythologisch verklärten Wäldern ein Zuhause gefunden hat. Eine Welt zwischen Hexen, Werwölfen und Doppelgängern wird angerufen. Das klingt passend für diese Jahreszeit; geschickte DJs wissen die Gespenstergeschichten auch in ihre Sets zu integrieren.

Zu den Künst­le­rIn­nen dieser endogamen Compilation gehören neben Kirschstein und Brannten Schnüre auch Freundliche Kreisel, das aus dem Duo Schoppik/Rich sowie Johannes Schaebler besteht – Schaebler wiederum taucht auch solo unter dem Alias Baldruin auf.

Man merkt: Sonderlich verzweigt ist diese Szene nicht, sie hat sich jedenfalls gründlich auf diesen unheimlichen Spaß spezialisiert. Der reicht vorerst, um größeres Interesse im In- und Ausland zu produzieren. Das muss man erst mal schaffen mit grobkörniger, experimenteller, lyrisch-deutschsprachiger Musik unterhalb des Radars des Popspektrums.

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