Historiker Hering über Kirche im NS: "Der Norden war besonders aufnahmefreudig"

Geistliche in Norddeutschland traten häufiger der NSDAP bei als anderswo und dienten sich bereitwilliger dem Regime an. Nach 1945 verschleppten sie die Aufarbeitung umso mehr. Der Historiker und Archivar Rainer Hering zu den Gründen.

Sah den Nationalsozialismus des Volkes "Tiefenkräfte" wachrufen und versorgte nach dem Krieg Regimegetreue: Hamburgs Landesbischof Simon Schöffel Anfang der 20er Jahre Bild: Nordelbisches Kirchenratsalbum

taz: Herr Hering, in einem Aufsatz schreiben Sie, dass die Hälfte der Hamburger Pastoren während des "Dritten Reichs" Mitglied der nazi-nahen Deutschen Christen waren. Jeder zehnte Pastor sei Mitglied der NSDAP gewesen. Sind das mehr als anderswo?

Rainer Hering: Was die Mitgliedschaft bei den Deutschen Christen betrifft, ist die Quote nicht besonders hoch. Zehn Prozent NSDAP-Mitglieder fallen schon eher ins Gewicht. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass protestantische Gebiete eher Hochburgen der NSDAP waren als katholische.

Wie erklärt sich das?

Das katholische Milieu war geschlossener. In der katholischen Kirche, die bis zum Konkordat von 1933 eine sehr distanzierte Haltung gegenüber der NSDAP einnahm, gab es eher Vorbehalte. Im katholischen Bayern war es zum Beispiel nicht möglich, am Sonntagvormittag HJ-Veranstaltungen anzusetzen - da gingen die Leute in die Kirche. Das war im protestantischen Norden anders.

Warum traten norddeutsche Geistliche der NSDAP bei?

Vor allem aufgrund ideologischer Parallelen: Protestantische Geistliche waren oft sehr national eingestellt. Sie plädierten für einen starken Staat und hofften, dass die Nazis Deutschland - und mithin die Kirche - stärken würden und liberale Tendenzen, die ja oft kirchenkritisch waren, schwächen.

der 49-jährige Historiker leitet seit 2006 das Landesarchiv Schleswig-Holstein. An der Uni Hamburg lehrt er Geschichte und Archivwissenschaft.

Der Hamburger Landesbischof Simon Schöffel hat 1934 gesagt, Kirche und Nationalsozialisten verbinde "das Wissen um das Gericht, das sein muss". Warum das?

Das ist schwer zusagen, weil Schöffel seine Argumentation nicht weiter ausführte. Schöffel hat ja auch gesagt, der Nationalsozialismus rufe "Tiefenkräfte des Volkes, wie sie in Blut und Rasse gegeben sind", wach.

Schöffels Amtskollege in Eutin, Landesbischof Wilhelm Kieckbusch, äußerte sich ähnlich. Was trieb Kirchenleute zu solchen Antisemitismen?

Sie wollten sich aus den vorgenannten Gründen dem NS-Staat andienen - auch durch antisemitische Äußerungen.

Wie gründlich entnazifizierte sich die evangelische Kirche Norddeutschlands nach 1945?

Wenig nachhaltig. Schöffel etwa sorgte dafür, dass die Betreffenden in die höchste Gehaltsklasse befördert und dann in den Ruhestand versetzt wurden. Später wurden sie fast alle nach und nach wieder auf feste Stellen gehievt.

Wie stand es überhaupt darum, Schuld einzugestehen? Der Hamburger Hauptpastor Paul Schütz und andere behaupteten, in den zurück liegenden zwölf Jahren seien "Dämonen" über die Deutschen gekommen.

Ein Schuldeingeständnis oder eine Bitte um Vergebung gab es nicht - weswegen die These von den Dämonen, die 1933 kamen und 1945 wieder gingen, gern herangezogen wurde. Sie kam auch bei der Bevölkerung gut an, denn im Klartext hieß das ja: Wir haben nichts damit zu tun.

Hat nie jemand gefragt, warum gerade die Kirche, die ja nach eigenem Verständnis Gott im Rücken hatte, nichts gegen diese "Dämonen" getan hatte?

Ich glaube, das wurde nicht hinterfragt. Es hieß dann eher, es sei eben nicht intensiv genug gebetet worden - und das Gebet lässt sich ja nicht überprüfen.

Wie gestaltete sich die Aufarbeitung der jüngsten Geschichte durch die norddeutschen Kirchen insgesamt?

Weit zögerlicher als anderswo. Im Rheinland und in Westfalen etwa sind sehr früh - schon in den 1970er Jahren - Arbeiten erschienen, die sich kritisch mit der Rolle der Kirchen im "Dritten Reich" befassten. In Hamburg dagegen hat Bischof Karl Witte die Edition einer 1960 fertig gestellte Arbeit Heinrich Wilhelmis um acht Jahre hinausgezögert. Und ein Schuldeingeständnis der evangelischen Kirche, das es im Rheinland schon 1980 gab, kam von der nordelbischen Kirche zwei Jahrzehnte später.

Da zeigte sich also ein Nord-Süd-Gefälle.

Was vielleicht damit zusammen hängt, dass gerade im Norden viele NS-belastete Geistliche in den Kirchen untergebracht wurden. Der Eutiner Landesbischof Kieckbusch hat stark belastete Leute untergebracht, etwa Joachim Hossenfelder, den Reichsleiter der Deutschen Christen, der in Ratekau als Pastor tätig war und zeitlebens uneinsichtig blieb. Und für Ernst Szymanowski alias Biberstein, der 1933 Propst in Bad Segeberg wurde und 1941 an Judenerschießungen der SS teilnahm, sammelte die schleswig-holsteinische Kirche nach dem Krieg Geld, damit er sich wieder eine berufliche Existenz aufbauen konnte. In einem solchen Klima war es kaum möglich, die Rolle der Kirche kritisch aufzuarbeiten.

Was war denn im Norden so anders als im Süden?

Schleswig-Holstein war generell sehr aufnahmefreudig - nicht nur für Flüchtlinge, sondern gerade auch für belastete Nazis. Nicht umsonst gibt es den Witz, dass in Schleswig-Holstein selbst Hitler als Mitläufer entnazifiziert worden wäre. Zudem hatte Schleswig-Holstein schon in den 20er und frühen 30er Jahren sehr hohe NSDAP-Wahlergebnisse. Es gab also eine besonders starke Akzeptanz für die NS-Ideologie. Das war sicher ein Grund dafür, dass dort viele belastet Geistliche unterschlüpfen konnten.

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