Immer mehr Abschiebungen in Hamburg: „Es trifft vor allem Familien“

Hamburgs rot-grüner Senat schiebt immer mehr Asylsuchende ab. Anders als in Berlin soll es einen humanitären Abschiebestopp im Winter nicht geben.

Polizisten begleiten eine asylsuchende, aber abgelehnte Familie 2015 auf dem Flughafen Leipzig-Halle zu dem Flugzeug nach Belgrad.

Wäre in Berlin womöglich nicht passiert: Familie bei ihrer Abschiebung im November 2015 auf dem Flughafen Leipzig-Halle Foto: dpa | Sebastian Willnow

HAMBURG taz | In Hamburg hat sich die Zahl der abgeschobenen Personen vom zweiten auf das dritte Quartal 2023 mehr als verdoppelt: 104 Menschen mussten gezwungenermaßen das Land verlassen. Darunter waren 19 schulpflichtige Kinder – fast das Zehnfache der Zahl aus dem ersten Quartal des Jahres. Das ergab eine Kleine Anfrage der Hamburger Linksfraktion. In den Antworten des Senats nicht mitgezählt werden Menschen, die Hamburg mehr oder minder „freiwillig“, also nach Aufforderung der Behörden, verlassen haben.

In den Augen der Linksfraktion ist die Politik der übereifrigen Abschiebungen Ausdruck einer flüchtlingsfeindlichen Stimmung nicht nur in Hamburg. Die migrationspolitische Sprecherin, Carola Ensslen, ist erschüttert über das Ausmaß der „Abschiebebegeisterung“, die besonders geflüchtete Familien aus den Westbalkanstaaten treffe.

„Die Situation in den Herkunftsländern verschärft sich in den Wintermonaten zusätzlich“, sagt Ensslen. „Viele Geflüchtete werden sehenden Auges Diskriminierung, Marginalisierung und Obdachlosigkeit ausgesetzt.“

Die Linke fordert die Hamburger Bürgerschaft, wie schon in vergangenen Wintern, auf, einen humanitären Winterabschiebestopp zu verhängen – doch ohne Erfolg. Das einzige Bundesland, das dieses Jahr einen Winterabschiebestopp verhängt hat, ist Berlin.

Die Linksfraktion kritisiert besonders unangekündigte Abschiebungen und solche von Kindern und Jugendlichen aus dem laufenden Schulbetrieb. Seit den Verschärfungen des Asylrechts im Jahr 2015 und den stetigen weiteren Verschlechterungen der rechtlichen Situation Schutzsuchender haben die Ausländerbehörden solche Praktiken als Standard etabliert. So werden Kinder und Jugendliche von heute auf morgen ihrem Umfeld und ihren Freundeskreisen entrissen.

Wiebke Judith, Pro Asyl

„Man braucht wenig Anstand, um zu erkennen, dass Abschiebungen im Winter lebensgefährlich sein können“

Dabei ist die Lebenssituation schutzbedürftiger Minderheiten wie Rom*nja, Ashkali und Gora­n*in­nen vor allem in den Westbalkanstaaten oft existenziell bedroht. Die Linksfraktion weist in ihrem Antrag darauf hin, dass dorthin Abgeschobene zum Teil kaum Zugang zu Krankenversorgung, Arbeitsmarkt, Schulbildung und Wohnraum haben.

Ein weiterer Risikofaktor sei die Energiekrise. Etwa in Moldau träfen die Preissteigerungen besonders die ärmeren Bevölkerungsschichten, zu denen Minderheiten gehören. Eine humanitäre Zwischenlösung nach dem Berliner Vorbild sei auch in Hamburg dringend nötig, fordert Ensslen.

Doch wieso ist, was in Berlin klappt, in Hamburg offenbar undenkbar? Kazim Abaci, Fachsprecher für Geflüchtete der SPD-Fraktion, verweist dazu auf die Rechtsstaatlichkeit der Abschiebevorgänge: „Rückführungen fußen auf rechtsstaatlichen Verfahren, die saisonunabhängig für jeden Fall individuelle Gefahren berücksichtigen“, sagt er auf Nachfrage der taz. „Die Menschen, deren Aufenthalt nicht rechtens ist, müssen zurückkehren, damit Schutzsuchende mit berechtigtem Asylanspruch aufgenommen werden können.“

Ak­ti­vis­t:in­nen kritisieren diese „Saisonunabhängigkeit“ scharf. Wiebke Judith, die rechtspolitische Sprecherin der Organisation Pro Asyl, sagt: „Man braucht nur wenig Anstand, um zu erkennen, dass Abschiebungen besonders im Winter gesundheitsgefährdend oder gar lebensgefährlich sein können.“ Vor allem dann, wenn man davon ausgehen müsse, dass Menschen bei teils eisigen Temperaturen in ihren Herkunftsländern keine angemessene Unterkunft finden.

Auch die Linksfraktion überzeugt das von der SPD angeführte Argument der Rechtsstaatlichkeit nicht. Zudem gebe es ja eine Lösung, die ebenfalls rechtsstaatlichen Kriterien entspreche, sagt Ensslen. Diese finde sich im Aufenthaltsgesetz, das die Zuwanderung in Deutschland regelt. So kann „die oberste Landesbehörde aus völker­rechtlichen oder humanitären Gründen anordnen, dass die Abschiebung in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird“. So steht es in Paragraf 60a, Absatz 1 des Gesetzes.

Winterlicher Abschiebestopp für drei Monate

Auf dieser Grundlage hat auch Berlin den winter­lichen Abschiebestopp verhängt. Für drei Monate, mit einer Verlängerung auf bis zu sechs Monate, könnte für Gruppen, deren Herkunftsländer von kalten Temperaturen gezeichnet sind, Abschiebungen gestoppt und so Familien vor einem existenzbedrohenden Winter geschützt werden.

Abgesehen vom Leid der Betroffenen habe die aggressive Stimmungsmache gegen Geflüchtete noch einen anderen negativen Effekt, sagt Ensslen:­ „Jegliche Form von migrations­feindlicher Politik stärkt die AfD“, warnt die Linkenabgeordnete. Die menschenfeind­liche Asylpolitik der Bundesregierung, die sich zuletzt in der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) niederschlug, stärke den Aufwärtstrend der Rechten.

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