Interview: "Briten sind die Verlierer des Gipfels"

Der EU-Reformvertrag weist in die richtige Richtung, sagt der Europarechtler Jens Wolfram

Blair lehnt die Grundrechte-Charta ab. So sind die Menschen in Großbritannien die Verlierer des EU-Gipfels, sagt Wolfram. Bild: reuters

taz: Angela Merkel hat den EU-Gipfel mit dem Satz zusammengefasst: Wir haben die Konstruktion geändert, aber die Substanz gerettet. Stimmen Sie zu?

Jens Wolfram: Sicherlich ist die rechtliche Substanz der Verfassung in weiten Teilen erhalten geblieben: Europa wird mit dem Reformvertrag besser, als es jetzt ist. An politischer Substanz ist aber einiges verloren gegangen - insbesondere in Bezug auf die Transparenz. Bedauerlich ist zudem, dass die Latte für einen Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention höher gelegt wurde: Im Rat braucht es dafür Einstimmigkeit. Gerade der Verlauf dieses Gipfels lässt ahnen, was das bedeutet.

Immerhin wurde die Grundrechte-Charta gerettet. Dem Luxemburger Regierungschef Juncker ist sie so wichtig, dass er sie jedem Bürger in die Hand geben will. Für die Briten soll sie nicht gelten. Kann das funktionieren?

Die Charta macht die bereits bestehenden Grundrechte transparent und weitet darüber hinaus die sozialen Grundrechte aus. Genau das will Blair nicht. Der Grundrechtsschutz auf der Insel wird künftig schwächer sein als auf dem Kontinent. Wenn das britische Parlament eine Richtlinie umsetzt, kann es die Charta beiseitelassen.

Die Briten wollten immer EU-Bürger zweiter Klasse sein. Das haben sie doch jetzt erreicht, oder?

Zynisch könnte man das so sagen. Die Menschen im Vereinigten Königreich sind die Verlierer dieses Gipfels. Es trifft übrigens nicht nur die Briten: Der in Großbritannien lebende Deutsche kann sich nicht auf die Charta berufen. Der Brite in Deutschland aber schon.

Ursprünglich ist der Verfassungskonvent eingesetzt worden, um Europa den Bürgern näher zu bringen. Wird das Ziel verfehlt?

Ein Stück weit ja. Gesetze werden nicht "Gesetze" heißen, der Außenminister darf nicht so genannt werden, der Begriff Verfassung wird gestrichen - obwohl sich dadurch rechtlich nichts ändert. Der Vorrang des Unionsrechts soll lieber nicht erwähnt werden, obwohl er bestehen bleibt. Nach den negativen Referenden wollen die Regierenden die Dinge lieber nicht mehr beim Namen nennen und die Menschen lieber nicht mit der Nase darauf stoßen, wie relevant Europa für sie ist und wie wichtig es ist, sich dort auch einzumischen.

Die nationalen Parlamente können künftig Initiativen der EU-Kommission stoppen. Was ändert dies?

Die Bedeutung dieses Artikels liegt vor allem in seiner politischen Ausstrahlung. Das finnische Parlament prüft seit zehn Jahren jedes europäische Gesetz daraufhin, ob dessen Ziel durch ein finnisches Gesetz ebenfalls ausreichend verwirklicht werden könnte, und hat kein einziges gefunden. Der fachliche, personelle und zeitliche Aufwand dieser Vorabprüfungen ist übrigens riesig. Und es gibt ja die sehr viel effektivere Möglichkeit für jeden Mitgliedstaat, im Nachhinein ein Gesetz gerichtlich zu stoppen, wenn es gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt.

Ein Ziel war es, das soziale Europa gegenüber dem Binnenmarkt zu stärken. Ist das erreicht worden?

Schon der Verfassungsvertrag enthielt unübersehbare Fortschritte. Darüber hinaus wird nunmehr aus den Zielbestimmungen der Union der Grundsatz des freien und unverfälschten Wettbewerbs gestrichen. Das war eine Kernforderung der Linken.

Neelie Kroes hat schon eine Erklärung abgegeben, ihre Macht als Wettbewerbskommissarin werde dadurch nicht eingeschränkt.

Wenn es den politischen Willen gibt, haben wir nun eine juristische Grundlage, um den Wettbewerbsgedanken zugunsten von sozialpolitischen Erwägungen zurückzudrängen. Doch dafür braucht man natürlich auch nach der Reform erst einmal politische Mehrheiten.

Wo sollen denn die politischen Mehrheiten herkommen?

Aus Wahlen. Das EU-Parlament ist überwiegend konservativ und liberal besetzt. In Fragen der Wirtschaftspolitik und des Binnenmarktes kommt das entsprechend zum Tragen. Im Ministerrat ist die konservative Seite in den letzten Jahren auch immer stärker geworden. Ministerpräsident Christian Wulff tut so, als müsse er das Sparkassensystem vor Binnenmarktkommissar McCreevy verteidigen. Dabei ist das politisch sein eigener Mann.

DANIELA WEINGÄRTNER

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